Salutogenetische Geburtsvorbereitung
Interview mit Carole Lüscher, Hebammenpraxis 9punkt9: Warum ist Salutogenese auch in der Geburtshilfe so wichtig?
swissmom: In Ihrer Hebammenpraxis 9punkt9 arbeiten Sie nach salutogenetischen Grundsätzen. Was ist Salutogenese?
Carole Lüscher: Geprägt wurde der Begriff "Salutogenese" von dem israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky. Dieser stellte sich die Frage: Wie bleiben Menschen gesund? Und nicht: Wie werden Menschen krank? Medizingeschichtlich ist es so, dass man stets versucht hat, herauszufinden, warum die Leute krank werden, man hat Keime gesucht und nach Ursachen von Krankheiten geforscht. Antonovsky aber hat gefragt: Warum bleiben manche Menschen gesund und warum werden andere unter den gleichen Bedingungen krank? Für seine Forschungen hat er Frauen in der Menopause befragt. Einige dieser Frauen waren als junge Mädchen oder Frauen im Konzentrationslager gewesen, andere nicht. Er hat festgestellt, dass auch Frauen, die in ihrem Leben ganz schlimme Erfahrungen gemacht hatten, gesund geblieben waren. Er ging auch der Frage nach: Was heisst denn überhaupt "gesund sein" und hat dabei festgestellt, dass auch die Zufriedenheit eine wichtige Rolle spielt. Er hat versucht, herauszufinden, welches die Faktoren sind, die bewirken, dass ein Mensch mit einer Herausforderung umgehen kann. Heute ist dies ein riesiges Forschungsgebiet, in dem Immunologie, Neurologie und Psychologie vermehrt zusammenarbeiten. Es gibt ganze Gebiete, die neu entstehen, beispielsweise die Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie. Man stellt fest, dass man den Menschen nicht fragmentieren kann, sondern dass alle Faktoren einander beeinflussen.
swissmom: Welche Faktoren sind es denn, die bewirken, dass ein Mensch gesund bleiben kann?
Carole Lüscher: Antonovsky hat den Begriff "Sense of Coherence" (SOC) geprägt, was auf Deutsch als "Kohärenzgefühl" übersetzt wurde. Wann fühlen wir Menschen uns kohärent mit einer Situation? Durch ganz viele Interviews hat Antonovsky herausgefunden, dass drei Hauptdeterminanten gegeben sein müssen: Ein Ereignis ist für uns dann zu bewältigen und macht uns nicht krank, wenn es verstehbar ist, wenn es handhabbar ist und wenn es bedeutsam ist, also, wenn wir einen Sinn darin sehen. Das ist, ganz grob gesagt, das, was man beachtet, wenn man nach salutogenetischen Prinzipien arbeitet. In einer Beratungssituation, bei einer Geburt, beim Einrichten unserer Praxis, beim Führen von Mitarbeiterinnen, im Umgang mit sich selber - immer stellt man sich die drei Fragen: Ist es verstehbar? Ist es handhabbar? Ist es bedeutsam?
swissmom: Der salutogenetische Ansatz bestimmt also das ganze Leben, nicht nur Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett?
Carole Lüscher: Ja, das ist so. Antonovsky ist davon ausgegangen, dass das Kohärenzgefühl zwischen zwanzig und fünfundzwanzig etabliert ist und sich danach nicht mehr gross verändert. Durch Forschung hat man später jedoch festgestellt, dass es sich rund um die Geburt eines Kindes bei Mutter und Vater noch einmal stark verändern kann. Dies, weil in diesem Ereignis aus emotionaler und sozialer Sicht sehr viel Sinn und Bedeutsamkeit liegt. Weil unsere Fortpflanzung so ein ursprünglicher, so ein basaler Akt ist, kann sie uns auch körperlich verändern. Heute sieht man, dass Frauen nach einer Geburt gesünder sein können als vorher. Beispielsweise, dass das Immunsystem gestärkt wird und sie weniger Blasenentzündungen haben. Es ist sogar messbar, dass das Kohärenzgefühl nach einer Geburt, die salutogenetisch erlebt wurde, noch einmal gestärkt sein kann.
swissmom: Wie ist das messbar?
Carole Lüscher: Mit einem Fragebogen, der den SOC-Wert misst. Der ermittelte Wert sagt aus, ob jemand ein starkes oder ein schwächeres Kohärenzgefühl hat. Aber auch mit einfachen Aussagen wie "Ich kann besser mit Problemen umgehen. Ich kann besser mit mir selber umgehen. Ich kann den Sinn in meinem Leben besser sehen." Dies ist ganz naheliegend, denn wer Kinder hat, hat eine hohe Motivation, gesund zu bleiben. Alles, was mit den Kindern im Zusammenhang steht, ist bedeutsamer. Hier liegt ein riesiges Potential in unserer Arbeit. Wir können genau dort in die Frauen, in die Männer, in die Familie investieren. Wenn ein neuer Mensch auf diese Weise ins Leben kommt, bekommt er natürlich den Boden für dieses Kohärenzgefühl. Aus der Salutogeneseforschung und aus der Bindungsforschung weiss man heute: Je stärker das Kohärenzgefühl der Eltern ist, desto stärker ist es beim Kind, denn ein sicheres Bindungsverhalten wird weitergegeben. Das ist sehr logisch und naheliegend, man braucht nicht studiert zu haben, um dies zu verstehen. Aber die Forschung sagt genau das gleiche.
Carole Lüscher-Gysi ist Hebamme MSc und Leiterin der Hebammenpraxis 9punkt9 in Bern. 2017 gründete sie gemeinsam mit ihrem Team das "Zentrum für Salutogenese rund um die Geburt". Ziel der Praxis und des Zentrums soll eine hohe Qualität der Hebammenarbeit sein, in der konsequent nach salutogenetischen Prinzipien gearbeitet wird. Neben der Arbeit als Hebammen bildet das Team auch Studentinnen und zukünftig Fachpersonen aus. Carole Lüscher-Gysi engagiert sie sich zudem im Hebammenverband des Kantons Bern für die Qualität in der ausserklinischen Geburtshilfe. Sie ist verheiratet und hat 3 Kinder. Sie sagt: "Die Salutogenese veränderte nicht nur meine Arbeitsweise, sondern auch mich als Chefin, Mutter, Partnerin und Mensch."
swissmom: Wie ist das bei Frauen, die kein starkes Kohärenzgefühl haben, die viele Ängste und Unsicherheiten haben? Ist da eine intensivere Begleitung durch die Hebamme notwendig?
Carole Lüscher: Grundsätzlich gehen wir die Begleitung mit jeder Frau gleich an. Zuerst geht es darum, die Basis zu schaffen, zu orientieren und einzuordnen. Es geht stark um Beziehung und Sicherheit, die ich ihr geben kann und dazu muss sie verstehen, mit welchen Fragen sie zu uns kommen kann, was wir anbieten, wie das hier bei uns läuft. Die Frau soll Wertschätzung erleben: Hier hast du Raum. Ich nehme dich so, wie du bist. Du bist gut, so wie du bist. Auch wenn du Ängste hast, bist du hier richtig und es geht darum, dass wir mit dem starten, was du mitbringst, nicht mit dem, was du das Gefühl hast, du müsstest es mitbringen. Die Frau ist aus ihrer individuellen Situation aus irgendeinem Grund dahin gekommen, dass sie heute Ängste hat. Man muss nicht gleich frontal auf diese Ängste zugehen, sondern die Balance finden. Sind die Ängste so weit vorne, dass die Frau das Bedürfnis hat, darüber zu reden oder ist sie eher vorsichtig? Ich lasse ihr einfach ihr Tempo. Aber grundsätzlich hat jede Frau das Bedürfnis, gut orientiert zu werden und zu wissen, wie das hier läuft. Sie muss wissen, wie der Rahmen ist und wie die Rollen geklärt sind.
swissmom: Warum ist es wichtig, die Rollen zu klären?
Carole Lüscher: Die Rollenklärung ist ein Teil der Verstehbarkeit. Es gibt kein Machtgefälle zwischen uns, wir sind auf gleicher Höhe. Die Frau ist für ihre Anliegen verantwortlich und sie teilt so viel mit mir, wie sie will - so viel, wie sich sicher fühlt. Ich signalisiere ihr: Deine Ängste haben hier Platz und wir können das zusammen angehen, wenn du willst. Das ist häufig sehr spannend, denn hinter diesen Ängsten sind immer Erfahrungen und dann ist es wichtig, diese Erfahrungen aufzuarbeiten.
swissmom: Welche Erfahrungen können das sein?
Carole Lüscher: Oft hat eine Frau grosse Ängste im Bezug auf die Schwangerschaft und es stellt sich heraus, dass sie eine oder zwei Fehlgeburten hatte oder einen späten Abort oder gar ein Kind nach der Geburt verloren hat. Häufig fehlte die Therapie zu diesem Erlebnis. Dann müssen wir eigentlich zweigleisig fahren und sagen, wir haben hier einerseits die Schwangerschaft und da etwas zum Aufarbeiten. In solchen Fällen ziehen wir manchmal auch Hilfe bei, denn ich bin keine Therapeutin. Es gibt auch Ängste, die durch die vielen Informationen entstehen. Manche Frauen können das nicht filtern und es ist eine unserer Hauptaufgaben, dabei zu helfen. Wenn eine Frau beispielsweise Wasser in den Beinen hat, liest sie an einer Stelle, das sei alles ganz normal und an einer anderen, dies sei ein Hinweis auf eine Schwangerschaftsvergiftung. Ich frage nach, was die Frau beobachtet, wie sie die Situation einschätzt und stelle zusätzliche Fragen. So kann ich ihr sagen, ob es bei ihr Hinweise auf eine Schwangerschaftsvergiftung gibt oder nicht. Ich helfe der Frau, die Dinge einzuordnen. Am Anfang ist das aufwändiger, denn da kommen gleich ein paar solcher Ängste, aber mit der Zeit kennt die Frau das Prinzip. So geschieht ein Prozess. Wenn man nur gerade die Fragen beantwortet, die auftauchen und Tipps gibt, muss eine Frau immer wieder fragen. Aber es geht ja darum, dass sie lernt, sich selber einzuschätzen, zu filtern, zu merken, was ihr guttut und was nicht.
swissmom: Hat die salutogenetische Arbeit also zum Ziel, die Frau zu stärken und sie dabei zu unterstützen, einen Boden zu schaffen, auf dem sie als Mutter stehen kann?
Carole Lüscher: Ja, denn das ist die Grundlage dafür, wie sie mit dem Kind umgeht. Im Leben mit Kindern kommen immer wieder neue Fragen auf. Es gibt immer wieder neue Situationen, in denen man noch Anfängerin ist. Es ist ein Helfen, damit umzugehen, Anfängerin zu sein. Und auch zu merken: Ich starte nicht immer wieder bei null, sondern ich weiss jetzt, wie ich eine Sache angehen kann, auch wenn die Fragestellung neu ist. Es geht darum, zu schauen: Welches sind meine Ressourcen in diesen Neuanfängen? Was hilft mir? Ruhe? Langsamkeit? Rückzug? Es sind sehr wichtige Fragen, die wir miteinander klären, weil wir wissen, dass nach der Geburt immer wieder Neuanfänge kommen werden.
swissmom: Sie haben vorhin gesagt, es gebe kein Machtgefälle zwischen Ihnen und der Frau. Als Hebamme erleben Sie aber bestimmt Situationen, in denen Sie genau wissen, was jetzt zu tun wäre. Wie leiten Sie eine Frau durch einen solchen Prozess, ohne dass ein Machtgefälle entsteht?
Carole Lüscher: Ich glaube, wir sind als Menschen auf der gleichen Ebene. Ich habe nicht das Recht, über eine Frau Macht auszuüben, wenn sie sich mir bei einer Geburt ganz ausliefert und ich dadurch in einer Machtposition bin. Es geht darum, dass ich diese Macht für sie einsetze. Dass ich ihre Verbündete bin, für ihre Wünsche einstehe und dafür sorge, dass ihre Anliegen gehört werden. Ich vergleiche es häufig mit einer Bergbesteigung. Wenn ich mich mit den Eltern hinsetze und wir zusammen die Rollen klären, ist es, wie wenn jemand zu einem Bergführer kommt und sagt: "Unser Ziel ist es, auf diesen Berg zu steigen. Was müssen wir tun, um oben gut anzukommen?" Der Bergführer sagt in einer solchen Situation: "Wir müssen zusammen anschauen, was ihr alles bereit haben müsst, wenn es losgeht." Er wird die verschiedenen Routen beschreiben und fragen, welche Route die Wanderer gehen wollen. Die Route gleich neben der Bergbahn, damit man jederzeit wechseln kann? Das wäre die Spitalgeburt. Oder die Route hinten durch, wo die Wanderer wirklich alles selber laufen müssen? Das wäre die Hausgeburt. Ich muss schauen, ob das Paar die richtige Ausrüstung im Rucksack hat.
swissmom: Was, wenn dies nicht der Fall ist?
Carole Lüscher: Wenn ich einem Bergführer sage: "Ich habe Knieprobleme", dann wird er mir sagen: "Ich denke nicht, dass es klug ist, wenn wir den Weg hinten durch nehmen." So sehe ich meine Aufgabe auch. Genau zu schauen, mit welchen Frauen man in eine Hausgeburt starten kann und mit welchen nicht. Wenn ein Paar die Voraussetzungen nicht mitbringt und sich nicht gut vorbereitet hat, dann geht es nicht und dann muss ich manchmal sagen: "Ich würde euch empfehlen, im Spital zu gebären, denn ihr braucht dieses Setting." Ein Bergführer würde in dieser Situation sagen: "Ich gehe mit euch hoch, aber wir gehen neben der Bergbahn." Das hat nichts mit Hierarchie zu tun. In der Geschichte der Medizin war es lange so, dass ich hingehe und der Arzt oder die Ärztin sagt mir, was gut für mich ist. Das ist nicht auf der gleichen Ebene, weil ich nicht wählen kann, nicht informiert werde und nicht sagen kann: "Aufgrund dieser Information entscheide ich mich für diese oder die andere Option:" Wenn einfach für mich entschieden wird.
swissmom: Wie gehen Sie vor, wenn das Paar trotzdem an seinem Wunsch festhält?
Carole Lüscher: In diesem Fall ist es sehr wichtig, über die Verstehbarkeit zu gehen und ganz transparent zu machen, welches die Voraussetzungen für eine Hausgeburt sind. Da sind wir sehr streng, denn diese Kriterien sind eng. Wenn ich die Verantwortung habe, muss ich auch dafür geradestehen können. Da muss ich als Bergführerin zumindest wissen: Wir haben alles dabei, was wir brauchen. Denn wir haben ja auch noch das Wetter, das unberechenbar ist. Wenn ein Paar zu mir kommt, das sich nicht gut vorbereitet, dann sage ich, dass wir auf diese Weise den Weg zusammen nicht schaffen werden. Es geht nur über das Erklären. Und zwar nicht das Erklären im Sinne von "Ihr müsst das so machen", sondern dass ich sage, warum es so ist. Es hat ganz viel mit Information und dem Verstehen zu tun. Mit dem Ernstnehmen der Menschen und mit der Bedeutsamkeit. Den Frauen zu sagen: "Ihr habt auch eine Verantwortung, nicht nur ich." Darin liegt die Wertschätzung, dass sie für sich selber Verantwortung übernehmen. Einige wollen und können das mehr, andere weniger und dem entsprechend wählt man ein Setting. Manche Frauen sagen: "Ich kann das nicht entschieden. Sag du, was ich tun soll." Da sage ich: "Nein, aufgrund von dem, was du mir erzählt hast, kann ich eine Empfehlung abgeben, aber entscheiden musst du."
swissmom: Sie bieten also den Paaren, die zu Ihnen kommen, eine bessere Entscheidungsgrundlage und stärken das Selbstvertrauen?
Carole Lüscher: Ja, so ist es. Es geht wirklich darum, zu sagen, jeder Mensch hat ein Recht, gehört zu werden und über sich bestimmen zu können, wenn er etwas nicht will. Ein Nein muss als Nein gelten, ob im Spital, in der Schule, im öffentlichen Raum, zu Hause oder in einer Beziehung. Dies gilt ganz besonders in der Schwangerschaft und unter der Geburt, weil die Frau sich da in einer besonders vulnerablen Phase befindet. Und dies gilt auch bei Kindern, bei Kranken, bei alten Menschen - einfach dort, wo man weiss, dass Menschen nicht im gleichen Masse für sich selber einstehen können. Das gibt Fachpersonen Macht, dessen müssen wir uns bewusst sein und sehr sorgfältig mit dieser Macht umgehen. Für uns bedeutet das, einen Schritt zurück zu machen und mehr Zeit zu geben für Entscheidungen. Die Haltung "Ich weiss, was für dich das Beste ist und das machen wir jetzt", war früher sehr verbreitet. Heute manifestiert sich diese Haltung vielleicht darin, dass man einen venösen Zugang gelegt bekommt, dass die Fruchtblase geöffnet oder die Geburt eingeleitet wird. Ich sage nicht, dies sei alles schlecht, aber es ist nicht in jedem Fall notwendig. Heute werden beispielsweise gar keine Einläufe mehr gemacht. Aber das ist auch nicht gut, denn in manchen Fällen wäre ein Einlauf das Richtige. Wenn die Frau die Sache erklärt bekommen hätte, könnte sie selber entscheiden. Hier sind wir bei einem der bedeutsamsten Ereignisse im Leben der Eltern und des Kindes und da gilt es, besonders gut zu arbeiten. Das ist nicht, wie wenn man ein falsches Kleid aufgeschwatzt bekommen hat, das man zurückbringen kann.
swissmom: Ist es denn nicht so, dass die Frauen heute sehr gut Bescheid wissen über Schwangerschaft und Geburt?
Carole Lüscher: Die meisten Frauen sind top informiert, sie haben alles Material für das Bébé vorbereitet, sie wissen Bescheid über Impfungen. Aber das ganz Konkrete fehlt. Eine Frau sagt beispielsweise, sie wache nachts immer auf. Meine Antwort lautet in diesem Fall: "Das ist genau richtig, jetzt kommt das Prolaktin. Gratuliere!" Aber das bedeutet, dass die Frau nicht mehr morgens um sieben im Büro stehen kann, denn aufgrund der hormonellen Veränderung sind die Morgenstunden diejenigen, in denen sie sich am besten erholen kann. Da muss man schauen, wie sich das mit der Arbeit vereinbaren lässt, sonst arbeitet sie gegen ihren Körper. Wenn die Frau weiss, warum das so ist und mit dem Körper arbeiten kann, ist es gar nicht mehr so schlimm, nachts aufzuwachen und mit dem Kind ein paar intime Momente zu geniessen. Wenn sie mit dem Arbeitgeber eine gute Lösung finden kann - zum Beispiel, dass sie jetzt immer erst um halb neun ins Büro geht -, muss sie sich nicht krankschreiben lassen. Solche Dinge liest man nicht in Büchern. Es geht um das Verständnis, wie alles zusammenhängt und wie es gelingt, auf Kurs zu bleiben.
swissmom: Das Angebot Ihrer Hebammenpraxis geht weit über die üblichen Schwangerschafts- und Wochenbettkontrollen hinaus. Sie bieten Begleitung in verschiedenen Situationen im ersten Lebensjahr des Kindes, Beratung für Schwangere, die Missbrauch erlebt haben, etc. Wie kommt es zu diesem umfassenden Angebot?
Carole Lüscher: Das kommt so, weil keine Frau einfach nur schwanger ist. Sie steht in einem ganz bestimmten Lebensabschnitt mit ihrer ganzen Geschichte. Die Frauen kamen selber mit diesen Themen zu uns und wir mussten uns einfach weiterbilden. Eine Urinkontrolle, Blutdruck und Bauchumfang messen, die Herztöne hören - das kann man irgendwo. Aber diese Parameter sagen mir nicht, ob es der Schwangeren und ihrem Kind wirklich gut geht. Wenn das Kind schlechte Herztöne hätte, hätte ich vorher schon viele Anzeichen übersehen. Es geht darum, eine Frau in ihrer Ganzheit zu sehen. Als Ganzes gesehen zu werden, ist das Bedürfnis fast aller Frauen. Und so haben wir einfach angefangen, zusätzliche Angebote zu machen. Oft haben wir auch mit anderen Fachpersonen zusammengearbeitet, aber dieses Fragmentieren ist schwierig, da nicht alle mit der gleiche Sorgfalt arbeiten. Da wir im Team eine Kleinkindererzieherin mit Spezialausbildung haben, können wir jetzt auch Angebote für das erste Lebensjahr machen. Zeigt sich bei bestimmten Konstellationen, dass es Probleme geben könnte, wenn das Bébé da ist, kann sie schon in der Schwangerschaft ins Boot geholt werden. So können wir sehr gut prophylaktisch arbeiten.
swissmom: Lässt sich diese Art von Begleitung überhaupt mit einer gewöhnlichen Kontrolluntersuchung vergleichen?
Carole Lüscher: Es ist eine Kontrolle, aber es werden andere Dinge kontrolliert. Wenn eine Frau reinkommt, achte ich mich: Wie ist ihr Ausdruck? Hat sie Pigmentflecken? Wie geht sie? Wie sieht der Bauch aus? Ich frage auch nach vielen körperlichen Befindlichkeiten: Wie schläft sie? Wie ist die Ausscheidung? Mag sie essen? Was isst sie? Wie geht es ihr beim Arbeiten? Und so bekomme ich viel mehr Auskunft als bei einer Urinkontrolle. Manchmal sehe ich schon wenn eine Frau hereinkommt so viele Anzeichen des Östrogens, dass ich eigentlich sagen könnte: "Es ist alles gut, du kannst wieder nach Hause gehen." Es gibt aber auch Frauen, die eine ärztliche Verordnung für zusätzliche Termine brauchen, weil die Situation sehr komplex ist. Gerade, wenn auf psychischer Ebene etwas vorliegt, braucht manchmal schon der Beziehungsaufbau mehr Zeit.
swissmom: Arbeiten viele Hebammen nach dem Prinzip der Salutogenese?
Carole Lüscher: Alle Hebammen arbeiten gesundheitsorientiert. Unsere Ausbildung ist ja auch darauf ausgerichtet. Wir haben ein Spezialgebiet in der Medizin, weil wir nicht mit kranken Menschen arbeiten. Wir gehen in unserer Praxis einfach einen Schritt weiter, indem wir ganz explizit mit den Instrumenten der Salutogenese arbeiten. Die Verstehbarkeit, indem wir klar orientieren und die Rollen klären. Die Handhabbarkeit, indem wir Beziehung und Vertrauen schaffen und Instrumente in die Hand geben, um Spannungen zu regulieren. Die Bedeutsamkeit durch die Wertschätzung, durch das Definieren von Macht und durch die Haltung, dass die Frauen selber entscheiden können. Viele Hebammen machen das intuitiv so. Wenn ich erzähle, wie ich arbeite, sagen mir andere Fachleute oft, sie machten es eigentlich auch so. Aber wenn man ganz gezielt so arbeitet, kann man in einer halben oder einer ganzen Stunde und manchmal schon in einem fünfminütigen Telefongespräch unglaublich schnell zum Kern der Sache kommen.
swissmom: Welche Auswirkungen hat Ihr Arbeitsansatz auf den Start ins Familienleben?
Carole Lüscher: Wir sehen einen sehr grossen Unterschied zwischen den Familien, die wir schon seit Beginn der Schwangerschaft begleitet haben und denen, die wir erst kurz vor der Geburt kennen lernen, wenn sie zu einer Vorbesprechung für das Wochenbett kommen. Dadurch, dass ein Vertrauensverhältnis aufgebaut ist, glauben uns die Eltern, wenn wir sagen, es sei wichtig, etwas Bestimmtes vorzubereiten. Und dann sind sie eben vorbereitet. Dann hat der Mann einen genügend langen Vaterschaftsurlaub geplant, sie haben alles bereit, was gebraucht wird, sie haben noch keinen oder nur wenig Besuch in den ersten zwei Wochen, sie wissen über die Untersuchungen Bescheid, die im Wochenbett kommen. Kurz: Sie fangen nicht überall neu an. Wenn wir eine Frau erst kurz vor der Geburt kennen lernen und in der Wochenbett-Vorbesprechung feststellen, dass es so, wie das Paar etwas geplant hat, vermutlich nicht funktionieren wird, können wir nicht alle Pläne umstossen. Dann müssen wir einfach mit dem arbeiten, was da ist. Es ist nie zu spät, aber man kann ein wenig besser vorbereitet auf eine Bergwanderung gehen oder ein bisschen weniger gut vorbereitet.
swissmom: Sie bieten individuelle Geburtsvorbereitungskurse an. Warum nicht in Gruppen?
Carole Lüscher: Wir hatten auch Gruppenkurse, die ich nach salutogenetischen Prinzipien geleitet habe. In der Gruppe besteht einfach die Schwierigkeit, dass man sechs bis acht unterschiedliche Paare hat. Die einen gehen ins Privatspital, die anderen in die Uniklinik, die Dritten haben eine Beleghebamme, die Vierten planen eine Hausgeburt und dann geht vielleicht noch jemand ins Geburtshaus. Das sind ganz unterschiedliche Settings und die Paare bringen auch ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Ich konnte das schon verbinden, indem ich über den Ablauf der Geburt, den Umgang mit Schmerz, die verschiedenen Geburtsphasen, den genauen Ablauf eines Kaiserschnitts etc. informierte. Dieses Grundwissen vermitteln wir auch in der individuellen Geburtsvorbereitung allen genau gleich. Aber man kann in der individuellen Geburtsvorbereitung natürlich viel spezifischer auf die Situation eines Paares eingehen und viel gezielter vorbereiten. Wenn eine Frau schon weiss, dass sie per Kaiserschnitt gebären wird, dann mag es wohl interessant sein, wenn sie hört, wie das Bébé durch das Becken geboren wird, aber es ergibt für sie viel mehr Sinn, wenn wir die Zeit investieren, um ihr den genauen Ablauf eines Kaiserschnitts zu erklären und ihr helfen, die Fragen vorzubereiten, die sie bei der nächsten Konsultation dem Arzt stellen will.
swissmom: Und doch bleibt auch bei der besten Vorbereitung die Frage: Wie wird die Geburt dann tatsächlich verlaufen?
Carole Lüscher: Genau, und darum ist es umso wichtiger, dass eine Frau versucht, sich über alles, was darum herum ist, möglichst gut zu informieren. Und dass sie, wenn sie weiss, dass sie nicht der Typ für etwas Bestimmtes ist, auch darauf vertrauen kann, dass sie das bekommt, was sie braucht. Das ist oft auch der Grund, warum Eltern eine Hausgeburt wollen. Sie sagen sich: "Das ist transparent. Ich habe ein Gegenüber, ich weiss, was ich in diesem Paket bekomme, die Regeln sind klar und ich kann mich ganz auf mich konzentrieren." In einem Spital ist man mit sehr viel Neuem konfrontiert, da es sich um eine grosse Institution handelt. Es sind mehr Menschen, es gibt klare Leitlinien, es ist einfach ein ganz anderes Setting. Den einen gibt dieses Setting Sicherheit, den anderen gibt die Hausgeburt Sicherheit. Man sollte abgeben dürfen, was man abgeben kann und Vertrauen haben, dass man gut geführt wird.
swissmom: So, dass man nach der Geburt sagen kann: "Ich habe mein Kind geboren" und nicht sagen muss: "Mein Kind ist geboren worden"?
Carole Lüscher: Ja, den sprachlichen Unterschied haben wir ja auch bei "entbunden werden" oder "gebären". Das Zweite ist eine unglaubliche Bestärkung, auch in dem Gefühl, Mutter zu sein. Wenn eine Frau so ins Wochenbett starten kann, sind das ganz andere Voraussetzungen, als wenn sie sagen muss: "Jetzt habe ich aber Glück gehabt, dass ich so gute Fachleute um mich herum hatte und alles so gut gekommen ist." Dies hat einen grossen Einfluss darauf, wie sie nachher die Herausforderungen mit dem Kind angeht und darum sind diese Begleitung und dieses Stärken so wichtig. Das wissen wir, aber wir müssen es auch umsetzten und das Mutterwerden, das Vaterwerden eignet sich sehr gut dafür. Wenn ich eine neue Mitarbeiterin habe und sie einfach komplett überfordere, dann bin ich diejenige, die es eben kann und ihr immer wieder hilft - aber sie mache ich dadurch schwach. Und es geht darum, genau das Gegenteil zu tun. Zu zeigen, dass man am Anfang noch nicht alles können kann, aber dass man sagt: "Ich traue dir zu, dass du das kannst. Du hast alles dabei, was du brauchst und jetzt musst du lernen, es anzuwenden." Das Spezielle am Mutterwerden, am Vaterwerden, ist ja, dass die Instinkte da sind. Autofahren kann ich nicht instinktiv, aber beim Mutterwerden hätte ich eigentlich ein ganzes Lexikon in meinem Stammhirn. Man kann diese Instinkte unterdrücken, indem man jemandem sagt: "Du machst alles falsch." Jemand aber, der hilft, diese Instinkte zu fördern, stärkt die werdenden Eltern.