Jetzt aber mal ehrlich

Kind vor dem Fernsehen mit Fernbedienung
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Schon kleine Kinder würden viel Zeit mit Smartphone, Tablet und Fernseher verbringen, liest man immer mal wieder, wenn neue Studienergebnisse publiziert werden. Woher die Forscher ihre besorgniserregenden Zahlen jeweils nehmen, ist mir jedoch ein Rätsel. Ich höre immer nur von Kindern, die von ihren Eltern geradezu gezwungen werden müssen, sich hin und wieder mal ein paar Minuten lang den digitalen Medien zu widmen. Dies zumindest könnte man denken, wenn man manchen Müttern zuhört. „Meiner ist praktisch nie am Handy und mit Games kann er erst recht nichts anfangen“, sagt die eine. „Das ist bei meiner Tochter nicht anders. Die schaut vielleicht alle drei Monate mal einen Film und telefoniert hin und wieder mit einer Freundin. Und der Kleine schafft nicht mal eine halbe Episode seiner Lieblingssendung, ehe ihm langweilig wird“, bestätigt die andere. Nur meine Knöpfe würden hinter dem Bildschirm vergammeln, wenn ich ihnen nicht mit dem Timer auf den Fersen wäre, damit sie nicht länger als empfohlen in die unendlichen Weiten der virtuellen Welt entschwinden.

Ganz ähnlich ist es mit dem Essen. Die Mediziner klagen über eine zunehmende Zahl übergewichtiger Kinder. Die Sportlehrer jammern, kaum einer sei mehr in der Lage, einen Purzelbaum zu schlagen. Zahnärztinnen und Ernährungsberaterinnen warnen im Chor, der viele Zucker, der in die Kleinen hineingeschüttet werde, könne böse Folgen haben. Doch die Mütter schwören alle hoch und heilig, ihre Kleinen könnten mit Süssem und Ungesundem überhaupt nichts anfangen. Am allerliebsten würden sie immer nur fettarmen Couscous-Salat mit sonnengetrockneten Tomaten und gerösteten Nüssen essen. Im Anschluss an die gesunde Mahlzeit seien sie dann nur mit Mühe davon abzuhalten, einen Marathon zu laufen. Nur unter meinen fünf Kindern hat es zwei, deren bevorzugte Sportart eine spezielle Variante des Mikado-Spiels ist: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Und natürlich bin ich die einzige, die dazu gezwungen ist, die Schokolade hinter Schloss und Riegel setzen, damit sie nur in angemessenen Mengen konsumiert wird.

Bettnässen ist auch so ein Thema. Bei den Viereinhalbjährigen sei jedes fünfte Kind nachts noch nicht immer trocken, bei den Neunjährigen immerhin noch jedes zwölfte, liest man. Doch wenn man auf dieses heikle Thema zu reden kommt, erzählt fast jede Mutter, ihre Kleinen hätten das mit drei tagsüber und mit dreieinhalb auch nachts geschafft. Immer. Ohne ein einziges Malheur. Mit Nachtwindeln und Wäschebergen hatten sie nie etwas zu schaffen. Nur bei unseren Kindern – man ahnt es schon – lief das nicht bei allen so reibungslos. Wobei: Es lief schon, aber eben nicht so, wie man das gerne hätte...

Es ist überall das gleiche Lied: Ein Erziehungsexperte kritisiert in einem viel beachteten Interview, der Umgangston in den meisten Familien liesse zu wünschen übrig, die Mütter bekräftigen unisono, Herumschreien sei ihnen ganz und gar fremd – nur mir steigt die Schamesröte ins Gesicht, weil ich manchmal halt trotzdem laut werde.

Oder irgendwo beschwert sich einer öffentlich, in den Familien werde kaum mehr gekocht und gemeinsam gegessen, alle Mütter schwören hoch und heilig, bei ihnen werde täglich dreimal gemeinsam, gesund und hausgemacht gegessen und ich möchte im Boden versinken, weil an manchen Tagen einfach die Zeit fehlt, um die Tortelloni von Hand zu formen.

Oder eine aktuelle Studie belegt, wie herausfordernd es ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, zahllose Mütter versichern mit entspannter Miene, das sei bei ihnen alles gar kein Problem, weil sie einen ach so verständnisvollen Chef und eine wunderbare, allzeit zuverlässige Kinderbetreuung hätten. Und ich raufe mir mal wieder die Haare, weil trotz Home-Office und nicht mehr ganz kleiner Kinder in schöner Regelmässigkeit alles aus dem Ruder läuft.

Irgendetwas stimmt hier nicht, denke ich mir zuweilen. Liegt es an den Experten, die die Dinge schwärzer malen, als sie in Wirklichkeit sind? Oder an gewissen Müttern, die alles mit Rosarot übertünchen? Oder ist es am Ende so, dass ich nach aussen hin auch nur meine guten Seiten sichtbar werden lasse, so dass andere nicht wagen, mir einen Blick hinter ihre sorgsam gepflegte Fassade zu gewähren? 

Letzte Aktualisierung: 02.10.2017, TV