Wenn Jimmy in der Wassermelone sitzt...
Neulich habe ich Shanaya* und Shane dabei zugesehen, wie sie sich auf den Mund küssten. Die beiden sahen einfach hinreissend komisch aus, wie sie sich einander vorsichtig näherten, ihre Lippen kurz aufeinander pressten und dann unter viel Gekreische voneinander Abstand nahmen, um sich die Spucke vom Gesicht zu wischen.
Ich erinnere mich auch noch ganz gut an Julia, die im Autokindersitz mit Inbrunst eine Elvis-Schnulze schmetterte. Es war einfach herzerwärmend, wie sie hemmungslos aus voller Kehle sang, dazu mit ihren kurzen, runden Ärmchen ruderte und sich nicht beirren liess durch die Erwachsenen, die ihre Kamera auf sie richteten.
Den kleinen Ricardo werde ich ebenfalls nie wieder vergessen. Wie er da in seinem Hochstuhl sass und mit ernster Miene und ausladenden Gesten seiner Mama die Welt erklärte, war einfach köstlich. Die Komik der Situation wurde unterstrichen, durch die Schoppenflaschen, Gummientchen und Teller mit Breiresten, die um ihn herumstanden. Die Botschaft war unmissverständlich: "So klein und schon so klug."
Bei "Sandy gegen Mandy" hingegen kamen mir beinahe die Tränen. War es nicht furchtbar fies, wie Mandy ihre Überlegenheit ausnützte, um ihrer Zwillingsschwester den Nuggi zu entreissen? Brach es einem nicht fast das Herz, wenn die unterlegene Sandy sich mit lautem Geschrei und verzweifeltem Blick nach einem Erwachsenen umsah, der helfend einschreiten würde?
Nach dieser herzzerreißenden Begebenheit suchte und fand ich Trost bei Jimmy, der splitternackt in einer ausgehöhlten Wassermelone sass, mit seinen noch kaum sichtbaren Zähnchen am Rand nagte und mit grossen, unschuldigen Augen in die Welt blickte. Ihm würde es bestimmt nie einfallen, ein anderes Kind durch brutales Entreissen des Nuggis zum Weinen zu bringen.
Ein derart erfrischender Anblick macht Appetit auf mehr und so schaute ich gleich noch Louise zu, wie sie auf ihren kurzen Stummelbeinchen mit einem Lampenschirm, den ihr die Mama über den Kopf gestülpt hatte, durch die Wohnung wetzte, gegen die Backofentür knallte und unsanft auf ihrem Hintern landete, der zum Glück durch die Windel gepolstert war. Drollig, nicht wahr?
Fast so drollig wie Robin, der sich in einem Trotzanfall in einem Haufen von Styroporkügelchen wälzt, bis alles an ihm klebt. Oder wie Carla, die beim Toilettentraining in der Schüssel stecken bleibt, nicht mehr rauskommt und laut und vergeblich um Hilfe schreit. Oder wie der winzige Tommy, der versehentlich den Staubsauger einschaltet, vor Schreck zusammenzuckt und heftig zu weinen anfängt. Oder wie Mirjam, der nach dem Niesen eine Menge Rotz aus der Nase läuft, was ihre Eltern dazu bewegt, zur Kamera anstatt zum Taschentuch zu greifen.
Natürlich kenne ich weder die küssende Shanaya, den in der Melone sitzenden Jimmy noch die kleine Louise mit dem Lampenschirm persönlich. Sie sind mir irgendwo in den Weiten der sozialen Netzwerke begegnet, vielleicht, weil einer meiner Freunde sie niedlich fand und das Video geteilt hat, vielleicht aber auch, weil ich im Netz irgend etwas mit Kindern gesucht habe und der Algorithmus nun glaubt, ich wolle solche Sachen sehen.
Aber ich will sie nicht sehen, denn ich finde, auch kleine Kinder hätten ein Recht darauf, dass ihre privatesten - und erst recht ihre peinlichsten - Momente privat bleiben. Darum hoffe ich insgeheim, dass Shanaya, Jimmy, Louise und alle anderen es dereinst, wenn sie Teenager sind und ein eigenes Handy haben, ihren Erzeugern heimzahlen.
Wobei ich, wenn ich es mir recht überlege, auch vor diesen Videos ganz gerne verschont bliebe.
*Sämtliche Namen sind natürlich frei erfunden.