Vom genügsamen Engel zum habgierigen Monster
Weihnachten steht vor der Tür und nicht wenige Eltern staunen, wie endlos lang die Wunschliste ist, die sie von den lieben Kleinen präsentiert bekommen. Wie, um alles in der Welt, kommen diese kleinen Menschen, die in den ersten Monaten ihres Lebens nichts weiter wollten als viel Milch, noch mehr Liebe und ab und zu ein bisschen Körperpflege, plötzlich auf die Idee, sie bräuchten mindestens ein halbes Königreich, um glücklich zu sein? Für die meisten von uns ist der Fall klar: Die Werbeindustrie ist es, die unsere einst so genügsamen, anspruchslosen Engel in habgierige kleine Monster verwandelt hat. Damit haben wir natürlich nicht ganz unrecht. Man braucht nur mal mitzuerleben, wie ein Neunjähriger mit Begeisterung sein gesamtes Taschengeld für Kärtchen, die mit hässlichen Bildern bedruckt sind, aus dem Fenster schmeisst, um zu begreifen, wie die Werber mit Leichtigkeit Stroh zu Gold spinnen.
Aber auch wenn wir es schaffen, unsere Sprösslinge von Fernsehwerbung und dergleichen abzuschirmen, damit sie sich von dem ganzen Mist nicht verzaubern lassen, glauben viele von ihnen früher oder später doch, die Begegnung mit einem Erwachsenen lohne sich nur, wenn man danach auch etwas in der Hand halte. Einen Teddy, zum Beispiel, ein neues Spielzeugauto, oder eine Puppe, die Pipi macht, aber ganz bestimmt keine Pullover und Socken, denn Gebrauchsgegenstände zählen nicht als kleine Aufmerksamkeit.
Man könnte natürlich behaupten, an dieser Erwartungshaltung seien die Apotheker und Drogisten schuld, die dem Kind bei jedem Einkauf ein Traubenzückerchen in die Hand drücken. Oder die Metzger an der Fleischtheke, die der Meinung sind, das Wursträdchen für kleine Kunden sei Pflicht. Oder die Bedienung im Schuhladen, die den armen Knöpfen die Luftballons fast schon aufzwingt. Oder der Besitzer des Kebab-Standes, der glaubt, süsse kleine Kinder dürfe man nicht ohne eine süsse Kleinigkeit von dannen ziehen lassen. Oder die Kinderärztin, die tapfere Patienten mit einem Griff in die Schatztruhe belohnt. Mag sein, dass die alle auch dazu beitragen, dass kleine Kinder jeden Erwachsenen für eine gute Fee mit unbegrenztem Zugang zu Ali Babas Schatzhöhle halten. Doch diese netten Gesten allein können es nicht sein, die unsere Sprösslinge dazu bringen, mehr zu wollen, als ihnen guttun kann.
Tja, und dann wird es halt doch ein bisschen ungemütlich für uns Eltern. Denn wer überhäuft jeden kleinen Erdenbürger schon bei seiner Ankunft mit einer Ausstattung, welche die Prinzessin auf der Erbse vor Neid erblassen liesse? Wer fragt in der Apotheke, beim Kinderarzt oder in der Metzgerei nach, wo die kleine Aufmerksamkeit fürs Kind bleibe, wenn sie mal vergessen gegangen ist? Wer hat der nächsten Generation beigebracht, dass man vom Osterhasen mehr erwarten darf als ein paar lausige bunte Eier und ein bisschen Schokolade in Hasenform? Wer hat sich irgendwann dazu entschieden, unseren nördlichen Nachbarn die Sache mit der Schultüte abzuschauen und diese Tüte mit sehr viel mehr zu füllen als ein paar Süssigkeiten und Bleistiften? Wer packt dem Samichlaus den Sack, der immer öfter auch Puzzles, Gummibälle, Kaleidoskope und andere nette Kleinigkeiten enthält, weil man glaubt, mit einer Handvoll Erdnüsse und ein paar Mandarinen lasse sich kein Kind mehr hinter dem Ofen hervorlocken? Wer trägt dazu bei, dass die Geschenke, die am Kindergeburtstag überreicht werden, immer grösser und teurer werden? Wer gibt den kleinen Gästen exklusive Give-Aways mit nach Hause, wenn sie sich nach der Geburtstagsparty von uns verabschieden? Wer füllt in liebevoller Kleinarbeit 24 Adventssäckchen mit "etwas Rechtem", weil Schöggeli und nostalgische Bildchen alleine angeblich nicht reichen, um eine anständige Vorfreude aufs Fest zu wecken? Wer sorgt dafür, dass fast jedes Kind, das sich zu Weihnachten nichts weiter als einen Zoobesuch gewünscht hat, mit einem bleibenden Andenken an den schönen Tag aus der Zooboutique spaziert?
Klar, ganz alleine sind wir Eltern nicht verantwortlich für diese Masslosigkeit. Grossmütter und Grossväter übertreiben es ebenfalls gerne mit ihrer Grosszügigkeit und gelegentlich meint auch ein Götti, er müsse seiner Liebe zum Kind mit dem Kauf der grössten und teuersten Ritterburg Ausdruck verleihen. Doch so schön es auch wäre, wenn wir Mütter und Väter mal allen anderen die Schuld in die Schuhe schieben dürften, anstatt immer für alles verantwortlich gemacht zu werden, was auf diesem Planeten schief läuft, so müssten wir uns vielleicht doch zuallererst an der eigenen Nase nehmen. Immerhin sorgt niemand ausser uns mit so viel Hingabe dafür, dass unsere Knöpfe sich wie Prinzen und Prinzessinnen fühlen, die ihre zahllosen Wünsche bloss auszusprechen brauchen, damit sie in Erfüllung gehen.