Gehirnentwicklung und frühkindliches Lernen
Der Mensch lernt ein Leben lang. Es erstaunt aber immer wieder, wie unglaublich leicht und schnell Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen. So beherrschen sie innerhalb weniger Jahre eine oder sogar zwei Sprachen nahezu fehlerfrei und vollständig.
Die Lernfähigkeit des Gehirns ist in dieser Zeit unglaublich gross. Deshalb bilden die Erfahrungen und Fähigkeiten aus dieser prägenden frühen Kindheit das Fundament für das weitere Leben. Doch weshalb ist das Lernen in der frühen Kindheit so wichtig? Was geschieht im kindlichen Gehirn? Was heisst es denn, dass ein kindliches Gehirn noch reifen muss? Und was heisst das für die frühkindliche Förderung?
Wie lernt das Hirn?
Das Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen. Die Anzahl bleibt von Geburt an gleich. Bei der Geburt eines Kindes ist also an und für sich schon alles vorhanden, das Gehirn ist aber insgesamt noch sehr „unfertig“.
Wichtig für die Funktion des Gehirns sind vor allem die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Beim Neugeborenen liegt lediglich ein Grundbauplan der neuronalen Vernetzung vor. Nur die zum Überleben notwendigen Verschaltungen wie Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur und einfache Bewegungsreflexe sind vorhanden. Alles andere ist noch nicht verschaltet und muss dazugelernt werden, das Hirn muss reifen. Diese Verbindungen erfolgen in einem unglaublich hohen Tempo.
Lernen oder Gehirnentwicklung beruhen also auf den Veränderungen und dem Wachstum dieser Verbindungen zwischen den Nervenzellen (Synapsen). Dieser Lernprozess kann aber nur erfolgen, wenn Sinnesreize das Hirn füttern.
Diese frühkindlichen Reize und Erfahrungen strukturieren und formen das Gehirn. Es verbinden sich ganze Hirnareale miteinander. Die Art, die Qualität und die Menge der Erfahrungen, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren macht, legen fest, wie dicht und damit leistungsfähig die Hirnstrukturen miteinander verknüpft werden.
Von diesem riesigen Angebot an Verbindungen bleiben allerdings nur jene bestehen, die durch eigene Erfahrungen intensiv genutzt werden. Alle anderen Verbindungen verkümmern. Wiederholte Erfahrungen festigen demnach die synaptischen Verbindungen. Und je mehr die Erfahrungen mit Emotionen wie Begeisterung oder Freude verbunden sind, desto besser können sie im Hirn verankert werden.
Unser Wissen, unsere Fähigkeiten und Gefühle sind also in den neuronalen Netzwerken unseres Gehirns abgebildet: je mehr gefestigte Verbindungen, umso besser funktioniert das Gehirn.
Neuronale Zeitfenster oder sensible Phasen
In bestimmen Entwicklungsphasen lernen Kinder gewisse Fähigkeiten wie Bewegungen, Sehen, Sprache oder Emotionen sehr schnell und effektiv. Man nennt dies neuronale Fenster oder lernsensible Phasen.
Diese Fenster öffnen sich für eine gewisse Dauer, das Gehirn ist empfänglich für Reize und Erfahrungen, die eine Fähigkeit, wie die Motorik oder das Sehen fördern und festigen. Dann schliessen sie sich wieder – eins nach dem anderen. Falls das Zeitfenster verpasst wurde, lassen sich Verschaltungen kaum mehr nachholen.
So liegt zum Beispiel das Fenster für die Entwicklung des Sehsystems zwischen dem 4. und 8. Lebensmonat. Babys lernen in dieser Zeit, ihre Umwelt zu erkennen. Kinder, die in der Vergangenheit wegen einer Linsentrübung erst nach dem 2. Lebensjahr operiert wurden, blieben danach blind, obwohl sie über zwei funktionierende, gesunde Augen verfügten. Das Fenster für die neuronale Verschaltung von Auge und Hirn war mit 2 Jahren schon geschlossen.
Die erste sensible Phase ist diejenige der Entwicklung der Bewegung und Motorik. Diese fängt schon im Mutterleib in der 7. SSW an und zieht bis zum 4. Lebensjahr.
Ab der Geburt bis zum 10. Lebensjahr reden wir von einer sensiblen Phase für die Sprachentwicklung.
Ab dem 6. Monat bis hin zur Pubertät entwickelt sich die emotionale Reifung.
Und zwischen 3 bis 10 Jahren liegt die sensible Phase für die Musik.
Es ist wichtig zu wissen, dass nicht jedes Kind zum selben Zeitpunkt in einer bestimmten sensiblen Phase ist und dass diese sich individuell stark unterscheiden können.
Frühförderung
Diese sensiblen Phasen sind der Ursprung der Idee der Förderung in der frühen Kindheit. Aufgrund dieses unglaublichen Potenzials des kindlichen Gehirns und dem Wissen um die neuronalen Fenster ist das Angebot an frühkindlichen Fördermassnahmen naheliegend.
Bei der Förderung gilt es in erster Linie, die Neugierde, die Lust am Entdecken und am Lernen in der frühen Kindheit zuzulassen. Falls Eltern aber ein Programm für sinnvoll erachten, sei es die Spielgruppe in einer Fremdsprache oder Musikunterricht für die Kleinsten, ist es überaus wichtig, dass die Kinder den kreativen Freiraum erhalten und mit Freude bei der Sache sind. Denn nur so formen und festigen sich die Verschaltungen. Ohne Freude bleibt vom Gelernten nichts hängen.
In der frühen Kindheit werden ohne jeden Zweifel wichtige Weichen für das spätere Leben gestellt. Deshalb ist es wichtig, dass man Sorge trägt, dass Säuglinge und Kleinkinder optimale Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung haben.
Das Gras wächst zwar nicht schneller, wenn man daran zieht. Dennoch kann man seinen Nachwuchs durch bewusste Förderung im Alltag unterstützen. Förderung heisst, dem Kind Erfahrungen zu ermöglichen, an denen es wachsen und für die es sich begeistern kann.