Depression in der Schwangerschaft
Experteninterview mit Prof. Dr. med. Konrad Michel
swissmom: Im Volksmund ist der „Baby-Blues“, die postnatale Depression eher bekannt, dass Frauen während der Schwangerschaft an Depressionen leiden weit weniger. Wie häufig erkranken Schwangere daran und warum spricht Frau nicht davon?
Prof. Michel: Von 100 Frauen entwickeln 10 oder mehr während der Schwangerschaft Symptome einer Depression. Frauen, die schon vor der Schwangerschaft Depressionen durchgemacht haben, weisen ein wesentlich höheres Risiko auf. Verständlicherweise sträuben sich betroffene Frauen oft gegen die Einsicht, dass mit ihrem psychischen Wohlbefinden etwas nicht stimmt, da ja allgemein die Meinung herrscht, eine Frau müsste sich doch über die Schwangerschaft und das bevorstehende glückliche Ereignis freuen. Es braucht daher oft Mut und eine Vertrauensperson, um darüber zu sprechen. Wichtig scheint mir, dass Frauen über die Schwangerschaftsdepression informiert sind. Man geht davon aus, dass Depressionen in der Schwangerschaft durch die grossen hormonellen Veränderungen ausgelöst werden. Man weiss heute, dass es sich dabei um eine – vorübergehende - Störung der Hirnfunktion handelt. Damit sei auch gesagt, dass Depressionen nicht einfach mit gutem Willen überwunden werden können; im Gegenteil: wenn man sich selber unter Druck setzt, wird die Depression verstärkt werden.
swissmom: Wie äusseren sich die Symptome?
Prof. Michel: Im Gegensatz zu den Symptomen des Baby-Blues, welche einige Tage nach der Geburt für 1-2 Wochen auftreten und vor allem durch Stimmungsschwankungen, Konzentrationsstörungen und Schlafprobleme charakterisiert sind, handelt es sich bei den Depressionen im engeren Sinn um längerfristige Veränderungen des psychischen Befindens. Betroffene nehmen sich selber als verändert wahr und verstehen nicht, was mit ihnen los ist. Sie registrieren einen Verlust an Energie, Initiative, Appetit, Interessen und Freude, wie auch eine Tendenz zum Gedankenkreisen. Es kommen vor allem Gedanken der Wertlosigkeit auf, und die Angst, der zukünftigen Aufgabe als Mutter nicht gewachsen zu sein. Nicht selten treten aus dem Gefühl der Überforderung auch Gedanken an Suizid auf.
Prof. Dr. med. Konrad Michel ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet die allgemeine Sprechstunde der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie in Bern. Zudem führt er eine eigene Praxis in Thun.
swissmom: Gerade in der Schwangerschaft setzen die hormonellen Veränderungen manchen Frauen zu. Was gilt noch „als normal“?
Prof. Michel: Ich glaube, man darf nicht nur von den hormonellen Veränderungen sprechen. Eine Schwangerschaft bringt im Leben neue Situationen bzw. Veränderungen der Lebensumstände mit sich, ja, sie kann sogar einen massiven Einschnitt ins bisherige Leben bedeuten. Viele Fragen tauchen auf, z.T. widersprüchliche Gefühle und Verunsicherungen. Dass eine Schwangerschaft und vieles, was sie mit sich bringt, zur psychischen Belastung werden kann, ist mehr als einfühlbar. Dies macht, zusammen mit den hormonellen Veränderungen, auch verständlich, dass ein Auf und Ab der Stimmungen während der Schwangerschaft ganz normal ist. Etwas Anderes ist es, wenn die Niedergeschlagenheit zum Dauerzustand wird.
swissmom: Was raten Sie einer Schwangeren, die an starken Ängsten leidet oder sich sehr niedergeschlagen oder bedrückt fühlt, zu tun?
Prof. Michel: Ängste und niedergeschlagene Stimmung, die länger dauern als einige Tage, sollten unbedingt mit einer Fachperson (Hebamme, Hausarzt, Frauenarzt) besprochen werden. Erstens ist es wichtig, mit einer neutralen Fachperson darüber zu sprechen, was an sich schon eine Entlastung bringen kann, zweitens kann diese Person auch bezüglich einer allfälligen weiteren Abklärung und Behandlung Rat erteilen.
swissmom: Warum ist es gerade in der Schwangerschaft so wichtig, Hilfe von Fachpersonen zu holen?
Prof. Michel: Die Schwangerschaft ist in vielerlei Hinsicht eine besondere Situation, in der körperliche und psychische Veränderungen auftreten, die eine Frau oft bisher nicht gekannt hat. Die Beurteilung einer depressiven Symptomatik braucht spezifisches Fachwissen, und therapeutische Massnahmen während der Schwangerschaft erfordern entsprechende Kenntnisse. Ausgeprägtere depressive Störungen stellen nicht nur eine Belastung für die werdende Mutter und ihren Partner bzw. ihre Familie dar, sondern können sich auch negativ auf das sich entwickelnde Kind auswirken. So ist in der Depression das Kind erhöhten Stresshormonen ausgesetzt, was zu einer Frühgeburt mit geringem Geburtsgewicht führen kann. Und zusätzlich es besteht das Risiko, dass eine unbehandelte Schwangerschaftsdepression in eine postnatale Depression (Wochenbettdepression) übergeht.
swissmom: Welche Behandlungsarten gibt es? Oft suchen die Schwangeren die Hilfe nicht, weil sie Angst haben, die Therapie schadet Ihrem Ungeborenen. Was können Sie Schwangeren dazu raten?
Prof. Michel: Je nach Ausprägung der depressiven Symptomatik und je nach Vorgeschichte (frühere depressive Phasen oder Episoden) wird bei länger dauernden depressiven Veränderungen der Einsatz eines Antidepressivums in Betracht gezogen werden. Wichtig zu wissen ist, dass sich die Fachleute aufgrund gross angelegter Studien heute einig sind, dass weitaus die meisten Antidepressiva während der Schwangerschaft ohne negative Auswirkungen für das Kind verschrieben werden können. Trotzdem geht es immer um ein Abwägen: Die heikle Zeit umfasst die ersten drei Schwangerschaftsmonate, d.h. die Zeit der Organbildung. Idealerweise würde man mit dem Verabreichen von Antidepressiva erst nach dem dritten Monat beginnen. Bricht eine Depression jedoch früher aus, oder was gar nicht selten ist, wird eine Frau schwanger, welche längerfristig auf ein antidepressives Medikament angewiesen ist, so gilt hier ganz klar und eindeutig die Empfehlung, dass auch während der gesamten Zeit der Schwangerschaft ein Antidepressivum verschrieben werden soll. Die negativen Auswirkungen auf den Verlauf der Schwangerschaft durch eine Depression werden in diesem Fall als bedenklicher eingestuft als die Tatsache, dass ein Teil der Wirksubstanz via Nabelschnur in den Blutkreislauf des wachsenden Kindes gelangt. Hier ist aber zu beachten, dass gewisse andere Psychopharmaka (Neuroleptika, sowie Medikamente zur Stimmungsstabilisierung) vermieden werden sollten. Heute gibt es zur Frage der Sicherheit medikamentöser Behandlungen in der Schwangerschaft zahlreiche Studien, Buchpublikationen, und auch Beratungsstellen für Fachleute. Am besten ist, wenn der Frauenarzt oder der Psychiater das Pro und Kontra anhand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ganz individuell mit der betroffenen Frau und ihrem Partner bespricht. Ich möchte aber hier noch einmal wiederholen, dass die meisten Antidepressiva in der Schwangerschaft ohne Bedenken eingenommen werden können.
swissmom: Eine Schwangerschaft ist in der Regel ein freudiges Ereignis. Wie soll das Umfeld bei einer Depression reagieren?
Prof. Michel: Entwickelt sich eine depressive Symptomatik, so ist wichtig, dass die Angehörigen darüber im Bild sind, was die Diagnose einer Depression bedeutet, was von einer Behandlung zu erwarten ist und vor allem, dass die depressive Grundstimmung und die negativen Gedanken nicht Ausdruck von fehlendem Willen oder einer falschen Einstellung sind. Wichtig ist auch zu wissen, dass Depressionen heute erfolgreich behandelt werden können. Und: Es sind nicht nur Medikamente allein, die helfen, sondern ebenso psychologische Unterstützung, Begleitung und Therapie.