Wie Kinder lernen, Ängste zu überwinden

Interview mit Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza

Junge hält sich ängstlich beide Ohren zu
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swissmom: Gibt es Beispiele für Ängste, die Teil einer gesunden kindlichen Entwicklung sind?  

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Ängste sind Teil einer gesunden Entwicklung, Ängste begleiten uns durchs Leben. Sie schützen und machen lebenstüchtig. Diese Ängste, die zu einer normalen Entwicklung gehören, bezeichnet man auch als "Entwicklungsängste": Sie sind mild, altersspezifisch und vorübergehend. Zu ihnen zählen gegen Ende des 1. Lebensjahres die Angst vor fremden Menschen, Gegenständen und lauten Geräuschen. Bei 2- bis 4jährigen überwiegt die Angst vor Tieren, vor der Dunkelheit und vor dem Alleinsein. Später steht die Angst vor Phantasiegestalten und Naturgewalten im Vordergrund. 

swissmom: Wie können Eltern ihre Kinder darin unterstützen, solche Ängste zu bewältigen?

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Um Ängste zu bewältigen, müssen Kinder sich der Angst zunächst stellen. Um sie im zweiten Schritt zu überwinden, bedarf es Vertrauen in die eigenen Kräfte. Bei beiden Schritten können Eltern unterstützen: Sie können ihre Kinder ermutigen, sich den Ängsten zu stellen und sie können ihnen das Vertrauen vermitteln, dass sie die Ängste überwinden können. Dann können Ängste das Selbstwertgefühl von Kindern stärken. 

Zur Person

S Walitza

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza ist Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich und kümmert sich in dieser Position seit 10 Jahren um psychisch kranke Kinder. Gemeinsam mit Siebke Melfsen hat sie das Buch "Soziale Ängste und Schulangst: Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln" verfasst. Die Autorinnen zeigen auf, wie sich soziale Ängste und Schulangst äussern und welche Möglichkeiten der Behandlung es gibt. 

swissmom: Mütter und Väter sind selber auch nicht gefeit gegen Angst. Welche Auswirkungen kann es haben, wenn Eltern überängstlich sind? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Bei überängstlichen Eltern ist der Wunsch, das Kind ohne Ängste zu erziehen, häufig deutlich ausgeprägt, während jene Seite der Angst, die zum normalen Leben gehört und stark macht, weniger Beachtung bekommt. 

swissmom: Angst kann auch ein ungesundes Mass annehmen. Wann spricht man von einer Angststörung? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Angst hat immer dann ein ungesundes Mass, wenn sie dazu führt, dass Betroffene - das können Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sein -, die alltäglichen Aufgaben nicht mehr bewältigen können und immer mehr Situationen vermeiden, also wenn sie z. B. nicht mehr den Kindergarten oder die Schule besuchen können. Wenn sie ihre Freizeit nicht mehr geniessen können, z. B. Ausflüge vermeiden, Einladungen nicht annehmen oder am Ende das Haus oder die Wohnung gar nicht mehr verlassen. Von einer Störung spricht man dann, wenn das Gefühl der Angst und die Folgen bei den Betroffenen einen Leidensdruck verursachen. 

swissmom: Können auch schon kleine Kinder an einer Angststörung leiden, oder betrifft dies nur Jugendliche und Erwachsene? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Angststörungen sind nicht nur die häufigsten psychischen Störungen überhaupt, sondern sie können in jedem Alter auftreten. Bei kleinen Kindern ist die Trennungsangststörung besonders häufig. Das Kind kann sich z. B. beim Kindergartenbesuch nicht von der Mutter trennen. Es hat dabei primär Angst, weil es befürchtet, der Mutter könnte etwas zustossen während der Zeit, in der es den Kindergarten besucht. Während der Trennungssituation kann das Kind sehr heftig reagieren. Dies reicht von Verzweiflung bis hin zum Androhen, die Mutter zu schlagen oder gar Handgreiflichkeit des Kindes. Wenn die Trennung erst einmal erfolgt ist, sind die meisten Kinder unerwartet schnell wieder entspannt. Dies ist sowohl für die Kindergärtnerinnen oder auch die Mütter selbst sehr eindrücklich (man kann z. B. der Mutter nach erfolgter Trennung ein Foto zur Beruhigung schicken). 

swissmom: Oft ist auch von Phobien die Rede. Worum handelt es sich dabei? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Phobien sind Angststörungen, die sich auf ein spezifisches Objekt (Hundephobie, Spritzenphobie) oder eine spezifische Situation (Agoraphobie: die Angst, auf grossen Plätzen Hilfe zu benötigen; Klaustrophobie: die Angst vor engen Räumen; Erythrophobie: die Angst, rot zu werden) beziehen. Von den Betroffenen werden diese "Objekte" oder Situationen, auf die sich die Angst bezieht, vermieden. Das Vermeidungsverhalten dehnt sich dabei immer weiter aus. Man sagt auch, es "generalisiert". Damit schränken die Phobien das Leben oft zunehmend ein. Das gleiche Phänomen kennen wir auch bei anderen Angststörungen. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Der Begriff Schulphobie ist eine Bezeichnung für Trennungsangst im Schulalter. In der Regel wissen die Eltern von dieser Angst und sie wissen auch oft, dass das Kind nicht in die Schule geht. Bei der Schulangst hingegen handelt es sich um eine Angst vor der Schule, z. B. vor Prüfungen oder auch vor Mobbing

swissmom: Kinder leiden häufig im Stillen und sind nicht in der Lage, den Grund ihrer Ängste zu benennen. Gibt es Anzeichen, die darauf hindeuten, dass ein Kind an einer Angststörung leiden könnte?

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Je jünger das Kind ist, umso weniger ist es in der Lage, die Angst oder Ursachen für die Angst verbal auszudrücken. Kleine Kinder mit Ängsten werden im Vergleich zu Erwachsenen nicht so häufig von negativen Gedanken überflutet, sondern sind eher unfähig, überhaupt noch zu denken. Oftmals sagen kleine Kinder: 'Ich habe Bauchschmerzen, ich kann nicht in die Schule...' Das Kind nimmt das Gefühl von Angst tatsächlich diffuser und unspezifischer wahr und so sieht es auch mit den Symptomen aus: Je jünger das Kind ist, umso mehr kann sich die Angst körperlich zeigen. Bei sozialer Phobie ist es oft der Fall, dass das Kind im Stillen leidet. Es wäre vielleicht am liebsten unsichtbar. Hingegen kann sich Angst bei jüngeren Kindern - wie auch bei Jugendlichen - auch als vermehrte Reizbarkeit zeigen. Anzeichen für Ängste sind z. B. Vermeidungsverhalten, Sicherungsverhalten und in einem zweiten Schritt auch sozialer Rückzug. Typisches Sicherungsverhalten bei der sozialen Phobie ist z. B., sich so hinzusetzen, dass man nicht bemerkt wird, oder leises Sprechen. 

swissmom: Zuweilen bekommt man den Rat, die Sache wachse sich dann schon aus, wenn man ihr nicht zu viel Beachtung schenke. Was ist davon zu halten? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Wenn es sich um eine Angststörung handelt, würden wir dazu raten, das Kind so schnell wie möglich zu behandeln. Wie schon erwähnt haben alle Ängste die Tendenz zur Generalisierung und Ausweitung. Das Vermeidungsverhalten führt dazu, dass der Betroffene denkt, nur wenn er die Situation vermeide, könne er seine Angst beherrschen. Dieses Gefühl verstärkt das Vermeidungsverhalten und es kommt zu einem sehr negativen Kreislauf, der zu immer mehr Angst führt. Man sollte deshalb das Kind ermutigen, sich den angstbesetzten Situationen zu stellen und positive Erfahrungen zu sammeln: In Bezug auf die vorhin erwähnte Trennungsangst wäre das die Erfahrung, dass mit meiner Mutter nichts "Schlimmes" passiert, wenn ich in den Kindergarten gehe. 

swissmom: Wie kann man einem Kind helfen, das unter Ängsten leidet? 

Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Susanne Walitza: Die Therapie der ersten Wahl bei Phobien und anderen Angststörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie. Dabei erstellt man zuerst eine Auflistung aller Ängste, unter denen der Betroffene leidet. Im zweiten Schritt wird die Schwere jeder dieser Ängste auf einer Skala von z. B. 1 bis 10 beurteilt (Hierarchie). Sehr schwierige Situationen erhalten den Punktwert 10. Ziel der Therapie ist es, sich diesen Ängsten abgestuft nach Schweregrad zu stellen und die Angst so lange auszuhalten (Exposition), bis man sich soweit an die Situation gewöhnt hat, dass die Angst abnimmt. Bei Kindern fängt man immer mit den sehr einfachen Situationen an und steigert den Schweregrad langsam. Bei Erwachsenen macht es oft Sinn, auch mit einem mittleren Schweregrad anzufangen. Diese Behandlung ist sehr effektiv und die Betroffenen haben sehr schnell Erfolgserlebnisse. Das kognitive Element an der Therapie ist die Arbeit mit sogenannten verzerrten oder falschen Überzeugungen. Diese liegen bei einfachen Phobien oft weniger vor, sie sind hingegen sehr häufig bei sozialer Phobie. Da traut der Betroffene sich nichts zu. Wenn das betroffene Kind zum Beispiel zu einer Geburtstagsfeier eingeladen ist, denkt es: Ich bin nur aus Mitleid eingeladen. Sie wollten mich eigentlich gar nicht einladen, ich stand nur zufällig gleichzeitig da...

Letzte Aktualisierung: 24.01.2020, TV