Was verstehen wir unter Entwicklung?
Interview mit Prof. Remo Largo
swissmom: Der Mensch lernt nie so viel, wie im ersten Lebensjahr, also als Baby. Wie funktioniert menschliches Lernen genau?
Prof. Remo Largo: In den ersten Lebensjahren eignen sich die Kinder drei bis sechs Wörter pro Tag an und wir Erwachsene tun gar nichts dafür, ja merken es nicht einmal. Diese unglaubliche Leistung ist möglich, weil das Kind eine Anlage zum Spracherwerb mitbringt. Zusätzlich muss das Kind mit entsprechenden Erfahrungen Sprache hören. Z.B. sagt die Mutter „Löffel“ und „Essen“, wenn sie das Kind mit einem Löffel füttert.
swissmom: Wann beginnt das menschliche Lernen?
Prof. Remo Largo: Ab der Geburt. Lernen heisst ja immer auch entsprechende Erfahrungen machen zu können.
swissmom: Wie kann eine Mutter das Lernen schon im Mutterleib fördern? Oder anders formuliert, ist das überhaupt notwendig: Förderung des Kindes schon im Mutterleib?
Prof. Remo Largo: Ich finde nicht. Wenn die Eltern sich nach der Geburt um das Kind bemühen, haben sie immer noch mehr als genug zu tun. Das Kind braucht Geborgenheit und Zuwendung, das bedeutet einen grossen Zeitaufwand für die Eltern.
Remo H. Largo wurde in Winterthur in der Schweiz geboren. Er studierte Medizin und Entwicklungspädiatrie in Zürich und Los Angeles. Ab 1978 leitete er die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich und habilitierte 1981 in Kinderheilkunde. Sein Wissen und seine Erfahrungen fasste er u. a. in den Büchern "Babyjahre" (1993) und "Kinderjahre" (1999) zusammen. Sie sind zu Ratgebern vieler Eltern geworden und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Der vielfach preisgekrönte Autor und Wissenschaftler achtete die Individualität des Kindes und warnte vor zu viel Förderwut: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht." Er verstarb Ende 2020.
swissmom: Wie wichtig ist der emotionale Zustand der Bezugspersonen nach der Geburt?
Prof. Remo Largo: Wichtig, aber nicht entscheidend. Wenn dem nicht so wäre, hätten etwa 10 Prozent der Kinder, beispielsweise Frühgeborene, einen grossen Nachteil. Die Bindung zwischen Kind und Eltern bildet sich nicht bei der Geburt, sondern im Verlaufe von Wochen und Monaten aus.
swissmom: Angeborene Reflexe bestimmen anfangs das Verhalten des Kindes. Viele dieser Reflexe (wie z.B. der Greifreflex oder Saugreflex) verlieren sich nach ein paar Monaten. Danach beginnt das Lernen bewusster Bewegungen. Dieses Erlernen läuft bei Kleinkindern ganz unterschiedlich ab. Sie nennen dies interindividuelle Variabilität. Viele Eltern sorgen sich, wenn die Entwicklungsschritte nicht nach Schema verlaufen. Ist es sinnvoll, die Kinder zu animieren, um z. Bsp. Entwicklungsrückstände aufzuholen?
Prof. Remo Largo: Jedes Kind ist ein einmaliges Wesen. Nicht nur wegen der unterschiedlichen Erfahrungen, die es macht. Es ist auch in seiner Anlage einmalig. Es gibt kein Merkmal, das bei allen Kindern gleich ausgeprägt wäre. Jedes Kind soll sich daher nach seinem individuellen Entwicklungsplan entwickeln dürfen.
swissmom: Sie zeigen auch auf, dass es für jeden Entwicklungsschritt einen gewissen Zeitpunkt gibt, an dem das Kind bereit ist, diesen Schritt zu machen. Wie können Eltern den richtigen Zeitpunkt wahrnehmen? Kann man ein solches Entwicklungsfenster auch verpassen? Überlieferte Grundhaltungen und Normvorstellung verunsichern Eltern oft, wie können sie sich davon lösen?
Prof. Remo Largo: Ein gutes Beispiel ist die Sauberkeitserziehung. Mit einer frühen und intensiven Erziehung wird das Kind nicht rascher trocken und sauber. Wenn es aber soweit ist, dann sollten die Eltern das Kind unterstützen: mit ihrem Vorbild und praktischen Hilfen, z.B. Hosen, die es selber herunterziehen kann. Verpassen sie aber den Zeitpunkt, kann es mühsam werden, weil sich das Kind daran gewöhnt hat, in die Windeln zu machen.
swissmom: Ist körperliches und psychisches Wohlbefinden wichtig für eine normale Entwicklung? Braucht es für eine gesunde Entwicklung gewisse Voraussetzungen?
Prof. Remo Largo: Genauso wie Nahrung für die körperliche Entwicklung notwendig ist, sind es auch Geborgenheit und Zuwendung für das psychische Wohlbefinden.
swissmom: Neben der motorischen Entwicklung geht im ersten Lebensjahr auch die geistige Entwicklung rasant vorwärts. Auch hier sind die Entwicklungsunterschiede bei Gleichaltrigen gross. Bis wann gleichen sich Entwicklungsunterschiede aus?
Prof. Remo Largo: Entwicklungsunterschiede gleichen sich nie aus! Auch wir Erwachsenen sind sehr verschieden. So können etwa 300 000 Schweizer kaum lesen, der Rest kann es mässig bis sehr gut. Wir sollten die Unterschiede akzeptieren, genauso wie bei der Körpergrösse. Kinder macht man mit mehr Nahrung auch nicht grösser, nur dick. So ist es auch in der Entwicklung. Überförderung verleidet den Kindern das Lernen.
swissmom: Was bewirkt die Erziehung auf die Entwicklung? Hat das Erziehungsverhalten oder die Erbanlage einen grösseren Einfluss auf das zukünftige Verhalten des Kindes?
Prof. Remo Largo: Weder noch. Die Erbanlage bestimmt, was möglich ist, beispielsweise an Körpergrösse oder Lesekompetenz. Die Erziehung bestimmt, ob dieses Potential realisiert wird, mit Nahrung bzw. mit Lernerfahrung.
swissmom: Wie bildet sich unser heutiges Rollenverständnis ab? Geht es da um unsere Kinder oder unseren Eigennutz?
Prof. Remo Largo: Seit der Einführung der Pille können Eltern entscheiden, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Damit haben die Kinder einen ganz anderen Stellenwert bekommen als früher, als Kinder noch Schicksal waren. Die Ansprüche an die Kinder sind gestiegen, etwas mehr Demut wäre angebracht. Kinder kommen nicht auf die Welt, um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen.
swissmom: Welchen Tipp können Sie Eltern auf den Weg geben, um das Aufwachsen der Kinder positiv zu erleben und zu geniessen?
Prof. Remo Largo: Zeit ist das kostbarste Gut geworden, das Eltern ihren Kindern geben können. Eltern sollten sich fragen: Wie viel Zeit verbringe ich bei der Arbeit, Hausarbeit, Sport und Freizeit, Unterhaltung und - mit den Kindern.