Sind Kin­der­krip­pen Kin­der­park­plät­ze? Was braucht es, um Kin­der­be­treu­ung kind­ge­recht zu ge­stal­ten?

In­ter­view mit Je­sper Juul

Zwei Kinder spielen auf dem Boden

swiss­mom: In der Schweiz gibt es eine Ten­denz, dass Frau­en ei­ni­ge Mo­na­te nach der Ge­burt ihre Ar­beits­tä­tig­keit wie­der auf neh­men. Dazu gibt es ver­schie­de­ne Be­treu­ungs­mög­lich­kei­ten für Klein­kin­der. Wel­che Mög­lich­kei­ten emp­feh­len Sie?

Je­sper Juul: Das ist sehr schwie­rig. Weil wir fest­ge­stellt ha­ben, dass die Be­treu­ungs­mög­lich­kei­ten se­kun­där für die Kin­der sind, aber ein Be­dürf­nis der Er­wach­se­nen sind. Und was ist nun op­ti­mal für die Kin­der? Das ist wirk­lich schwie­rig: Für rund 20 bis 22 Pro­zent der Ein­jäh­ri­gen, die in eine Krip­pen kom­men, ist es ei­gent­lich zu früh. Es gibt Kin­der, bei de­nen im Al­ter von 6 bis 8 Mo­na­ten der Ein­tritt pro­blem­los ist. Mei­ner Mei­nung nach wäre es bes­ser für so klei­ne Kin­der, zu Hau­se blei­ben zu kön­nen oder von ei­ner Ta­ges­mut­ter be­treut zu wer­den. Das heisst Frau­en, die auch pro­fes­sio­nell be­glei­tet wer­den und ma­xi­mal vier Kin­der aufs Mal be­treu­en. Das fin­de ich für Kin­der bis zum Al­ter von zwei Jah­ren bes­ser. Spre­chen wir mit Krip­pen­lei­te­rin­nen und -be­treue­rin­nen, dann ist es sehr wich­tig, wie vie­le er­wach­se­ne Be­treue­rIn­nen es pro Kind gibt.

Auch der Lärm­fak­tor spielt eine gros­se Rol­le. Für ein Klein­kind ist es sehr wich­tig, Ruhe zu ha­ben und we­nig Cha­os. Was wir be­ob­ach­ten und auch mit Cor­ti­sol (=Stress­hor­mon) -Mes­sun­gen nach­wei­sen kön­nen, ist, dass viel zu vie­le Klein­kin­der un­ter drei Jah­ren sehr ge­stresst sind. Nicht we­gen der Tren­nungs­ängs­te (hier sind die oben er­wähn­ten ca. 22% der Kin­der ge­meint, die stark da­von be­trof­fen sind), son­dern we­gen der gan­zen Um­stän­de.

Zur Per­son

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Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war bis 2004 Leiter des „Kempler Institute of Scandinavia“ in Odder, nahe Aarhus, das er 1979 gründete. 1972 schloss er sein Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte ab. Statt die Lehrerlaufbahn einzuschlagen, nahm er eine Stelle als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter an und bildete sich in Holland und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. 

swiss­mom: In der Krip­pe sein kann auch Spass ma­chen. Sin­gen, spie­len mit an­de­ren Kin­dern, bas­teln, Aus­flü­ge, Spa­zier­gän­ge, Spiel­platz be­deu­tet nicht un­be­dingt Früh­för­de­rung, aber er­öff­net den Kin­dern manch­mal eine neue Welt, die sie nur mit ei­nem El­tern­teil so nicht er­le­ben. Ist die­ser So­zi­al­kon­takt nicht auch wich­tig für Kin­der?

Je­sper Juul: Es ist si­cher gut für Kin­der ein­mal pro Wo­che, ev. zwei Mal pro Wo­che eine sol­che In­sti­tu­ti­on mit an­de­ren Kin­dern zu be­su­chen. Das soll für ein Kind ein An­ge­bot sein. Das ist ein gros­ser Un­ter­schied. Muss ein Kind täg­lich von sie­ben Uhr in der Früh bis abends in die Krip­pe, weil die El­tern ar­bei­ten, dann wird es plötz­lich zu ei­nem Zwang. Das Kind kann sich da­ge­gen nicht weh­ren. Was wie­der­um nicht heisst, dass es not­wen­di­ger­wei­se schlecht ist, eine Krip­pe zu be­su­chen, nur hat das Kind kei­ne Mög­lich­keit zu wäh­len. Plötz­lich hat das Kind kei­nen Spiel­raum, son­dern ei­nen "Ar­beits­tag". Das ist ein gros­ser Un­ter­schied. 

swiss­mom: Ein­el­tern­fa­mi­li­en, Klein­fa­mi­li­en sind heu­te Rea­li­tät. Frü­her gab es die "Gross­fa­mi­lie" (Gross­el­tern, Tan­ten, On­kel, Nach­barn). Die­se stell­te für sol­che Fäl­le ein Netz­werk dar, heu­te müs­sen El­tern oft bei­de Geld ver­die­nen. Ist da  eine Kin­der­ta­ges­stät­te nicht ein si­che­rer Ha­fen, be­son­ders wenn ge­stress­te El­tern an ihre Gren­zen kom­men?

Je­sper Juul: Ja, klar. In Dä­ne­mark hat man schon vor 25 Jah­ren ge­sagt, dass es bes­ser ist für ein Kind, eine Mut­ter zu ha­ben, die zu­frie­den ist, als eine ge­stress­te Mut­ter. Und den­noch re­den wir dar­über, was passt denn wirk­lich für die Mut­ter bzw. El­tern und was für das Kind. Müt­ter und Vä­ter sol­len ehr­lich sein und ih­rem Kind mit­tei­len, war­um es in die Krip­pe muss. Sie sol­len dazu ste­hen und ih­rem Kind er­klä­ren, dass sie sich für die­se Be­treu­ungs­art ent­schie­den ha­ben. Ge­nau die­se Aus­sa­ge ma­chen aber die we­nigs­ten El­tern. Sie ver­su­chen, die Krip­pe ih­ren Kin­dern mög­lichst gut zu ver­kau­fen. 

Mo­ra­lisch ist da­ge­gen nichts ein­zu­wen­den. Ich habe sehr sel­ten ei­nen Ju­gend­li­chen oder Er­wach­se­nen ge­trof­fen, der sag­te, in sei­ner Kind­heit muss­te er zu sei­ner Ta­ges­mut­ter ge­hen und das wäre furcht­bar ge­we­sen. Sol­che Aus­sa­gen sind mir nie be­geg­net. Es geht mir dar­um, die Po­li­ti­ker zu be­ein­flus­sen, dass es ge­nü­gend gute Be­treu­ungs­plät­ze für Kin­der gibt, dass die Er­wach­se­nen in ei­nem sta­bi­len Um­feld ihre Kin­der gross zie­hen kön­nen. Dass es min­des­tens ei­nen Er­wach­se­nen für vier Kin­der in ei­ner Krip­pe gibt, das er­ach­te ich als Mi­ni­mum für eine gute Kin­der­be­treu­ung. 

swiss­mom: Aus­ge­hend von dem As­pekt des Kin­des­wohls, ab wann ist es sinn­voll, Klein­kin­der mit an­de­ren Kin­dern zu­sam­men zu brin­gen? Nicht nur als Be­treu­ungs­mög­lich­keit, son­dern z.Bsp. in Spiel­grup­pen oder im Kin­der­tur­nen?

Je­sper Juul: Ab zwei, zwei­ein­halb Jah­ren wol­len Kin­der ger­ne spie­len, man­che auch schon frü­her. Es gibt oft ein Miss­ver­ständ­nis. Leu­te, die die Kin­der­krip­pen pro­pa­gie­ren, brin­gen oft­mals das Ar­gu­ment, dass die Kin­der in sol­chen In­sti­tu­tio­nen so­zia­le Kom­pe­tenz ler­nen. Das ist nicht wahr. Sie kön­nen in Krip­pen an­de­re Kin­der tref­fen, mit ih­nen spie­len. Die Kin­der ler­nen so­zia­les Le­ben. Das ist et­was an­de­res. Sie er­hal­ten so auch vie­le gute Er­fah­run­gen mit an­de­ren Kin­dern, die viel­leicht sonst nicht mög­lich wä­ren, wenn sie al­lei­ne bei der Mut­ter sind. 

Die meis­ten Kin­der spie­len sehr ger­ne und ge­nies­sen das auch. An­de­re sind eher Be­ob­ach­ter und es dau­ert län­ger bis sie spie­len. Dar­um ist es auch so wich­tig, dass auf ma­xi­mal vier Kin­der eine Be­treu­ungs­per­son oder Ta­ges­mut­ter vor­han­den ist. Die­se Be­treu­ungs­per­so­nen sol­len die Kin­der auch gut be­ob­ach­ten und eben ge­nau die­sen Un­ter­schie­den ge­recht wer­den. Man soll­te nicht eine kol­lek­ti­vis­ti­sche Päd­ago­gik an­bie­ten. So macht man die El­tern heu­te sehr ner­vös und sehr ängst­lich. Denn die El­tern sind heu­te fast da­von be­ses­sen, dass die Kin­der nor­mal sein sol­len. Die Gren­zen des Nor­mal­seins wer­den im­mer en­ger und en­ger! Wir wol­len alle  "A4"-Kin­der ha­ben, bald sind sie wie eine Vi­si­ten­kar­ten­grös­se. Wenn die Ta­ges­mut­ter auf die El­tern zu­kommt und die Be­ob­ach­tung mit­teilt, dass das Kind nur aus ei­ner Ecke al­len zu­sieht, kommt schon der Ge­dan­ke auf, dass eine The­ra­pie auf­ge­sucht wer­den muss. Das ist dann ein­deu­tig über­trie­ben. Man weiss, Kin­der sind ver­schie­den und ihre Be­dürf­nis­se auch. Was El­tern wirk­lich brau­chen, sind Rück­mel­dun­gen und zwar sol­che aus der Be­treu­er­sicht. Die­se Wahr­neh­mung ist z.Bsp. für Al­lein­er­zie­hen­de sehr wert­voll, denn die­se se­hen ihr Kind nur aus der per­sön­li­chen Per­spek­ti­ve. Oft sind die­se auf sich al­lei­ne ge­stellt und auch sehr ver­wund­bar und da kön­nen kon­struk­ti­ve Be­ob­ach­tun­gen wirk­lich hel­fen. Wich­tig sind aus­ge­wo­ge­ne, ru­hi­ge Rück­mel­dun­gen. Nicht sol­che, die den El­tern Sor­gen be­rei­ten. Un­se­re Ex­per­ten-Ge­sell­schaft - wie swiss­mom (lacht...) - be­schäf­tigt schnell der Ge­dan­ke, was geht im Hirn vor? Wann kann man was ler­nen? Heu­te gibt es mehr und mehr auch für El­tern ethi­sche Fra­gen: Soll mein Kind mit zwei Jah­ren schon Chi­ne­sisch ler­nen oder mit Kla­vier­spie­len an­fan­gen? Das müs­sen El­tern sel­ber be­ant­wor­ten, da kann man der Ge­sell­schaft oder Po­li­tik nicht ver­trau­en oder die Ent­schei­dung über­ge­ben.

swiss­mom: Was ich dar­aus höre, ist, dass die alt­mo­di­sche Be­treu­ungs­struk­tur, dass ei­ner ar­bei­tet und ein El­tern­teil die Kin­der be­treut, ge­nau­so gut ist wie eine gute Fremd­be­treu­ung mit ei­ner kon­stan­ten Be­treu­ungs­per­son und ma­xi­mal vier Kin­der pro Be­treue­rin. Auch die Ten­denz, mög­lichst früh Früh­för­de­rung zu be­trei­ben, emp­fin­den Sie als eine über­trie­be­ne Ten­denz, da die kind­li­che Hirn­struk­tur noch nicht so weit ist, all die­ses auf­zu­neh­men?

Je­sper Juul: Ja, man muss als El­tern vor­sich­tig sein. Wenn ein Kind mit neun Mo­na­ten nicht ger­ne in eine Kin­der­be­treu­ungs­stät­te geht, braucht es er­fah­re­ne Fach­leu­te, die die Kon­flikt­si­tua­ti­on be­glei­ten. Aber auch bei ei­nem Ge­spräch über ein Kind mit El­tern und zwei Fach­leu­ten ist es wich­tig zu er­ken­nen, dass die­se vier Per­so­nen im­mer von ei­nem an­de­ren Kind spre­chen, ob­wohl alle vom sel­ben Kind spre­chen. Wer ent­schei­det, was für ein Kind rich­tig ist und was nicht? Wir ha­ben heu­te oft nicht er­kannt, dass Kin­der wie Er­wach­se­ne sind, näm­lich sehr, sehr ver­schie­den. Und das Ver­hal­ten von den Be­zie­hun­gen ab­hän­gig ist. Ar­bei­ten Sie selbst z.Bsp. in ei­nem aus­ge­zeich­ne­ten Ar­beits­kli­ma, kön­nen Sie aus­ser­or­dent­li­che Leis­tun­gen her­vor brin­gen. Ist das Ar­beits­kli­ma ver­gif­tet, wer­den Sie kaum gute Leis­tun­gen er­brin­gen. Ge­nau das­sel­be kann man bei Schul­kin­dern be­ob­ach­ten. Manch­mal kann ein Klas­sen­wech­sel Wun­der wir­ken. Die­se Idee, dass Ex­per­ten Kin­der de­fi­nie­ren sol­len, ist krank, da­mit soll­ten wir auf­hö­ren.

swiss­mom: Wenn ich eine Kin­der­ta­ges­stät­te wäh­len muss, auf was soll ich ach­ten?

Je­sper Juul: Es ist wich­tig, dass man sich Zeit nimmt und sich ver­schie­de­ne In­sti­tu­tio­nen an­sieht. Dann muss man als Va­ter oder Mut­ter auf sein ei­ge­nes Herz hö­ren. Wo emp­fin­de ich die Stim­mung gut? Wo füh­le ich mich selbst wohl? Wo wür­de ich ger­ne ar­bei­ten? Wo wür­de ich am liebs­ten hin? 

swiss­mom: Ein wei­te­rer As­pekt ist, dass man das Kind da­nach be­ob­ach­tet und ge­nau hin­sieht und hin­ter­fragt, wie sich das Kind ver­hält. Ob es den An­schein macht, wohl zu sein. Und die Um­ge­bung be­ob­ach­tet, ob sein Kind, da hin­ein passt.

Je­sper Juul: Ja und da kommt ein wich­ti­ger As­pekt. Wir kön­nen ja auch nicht ver­lan­gen, dass Kin­der sich im­mer über­all wohl füh­len sol­len. Kin­der füh­len sich auch manch­mal zu Hau­se nicht wohl. Sie müs­sen sich nicht im­mer wohl füh­len. Aber Sie - als Er­wach­se­ne -  müs­sen die­se Si­tua­ti­on wahr- und ernst­neh­men. Und das ist ein Punkt, den wir in Skan­di­na­vi­en fest­ge­stellt ha­ben, dass be­son­ders un­ter den ein- und drei­jäh­ri­gen Kin­dern vie­le re­si­gnie­ren. Die­se Kin­der brau­chen Er­wach­se­ne. Aber die Er­wach­se­nen fra­gen nicht nach, denn es gibt zu vie­le Be­dürf­nis­se im Fa­mi­li­en­all­tag. Die Er­wach­se­nen sind oft schon mit ih­rem ei­ge­nen Le­ben ge­stresst und kom­men oft auch nicht auf die Idee zu fra­gen, wie es ei­gent­lich dem Kind in der Spiel­grup­pe geht. Be­son­ders, wenn nichts Auf­fäl­li­ges vor­ge­fal­len ist. Ge­nau dies darf nicht sein. Neh­men El­tern nichts wahr, kom­men sie nicht vor­bei und fra­gen, wie es ih­rem Kind er­gan­gen ist. Das ist Teil ei­ner wich­ti­gen Ent­wick­lung.

Wir müs­sen nun mal nach 35 Jah­ren Kin­der­be­treu­ung inne hal­ten und dar­über re­flek­tie­ren. Die Be­rufs­tä­tig­keit bei­der El­tern, die In­sti­tu­ti­on Kin­der­krip­pe war eine gros­se so­zia­le Re­vo­lu­ti­on, ein gros­ses, so­zia­les Ex­pe­ri­ment. Es ist blitz­schnell ge­gan­gen. Denn die Frau­en und mo­der­nen Män­ner ha­ben da­nach ge­ru­fen, dies woll­te auch die In­dus­trie und das woll­ten die Po­li­ti­ker. Es war ja in­ter­es­sant, dass in al­len drei skan­di­na­vi­schen Län­dern die kon­ser­va­ti­ven Po­li­ti­ker und die Wirt­schaft vor al­lem Kin­der­krip­pen ein­rich­ten woll­ten. Auch ich war da­von be­trof­fen, mein Sohn ist vier­zig und wir ha­ben ihn auch zu Ta­ges­müt­tern ge­schickt. Zwei da­von hat er sehr ge­nos­sen. Den Kin­der­gar­ten hat er nicht so sehr ge­nos­sen, weil da zu vie­le Kin­der an­we­send wa­ren. Auch sei­nen ei­ge­nen Ge­burts­tag moch­te er lie­ber mit we­ni­gen Kin­dern fei­ern. Es hat ihm si­cher nicht ge­scha­det, es war manch­mal ein­fach nur un­an­ge­nehm für ihn. So war es halt, ich habe ge­ar­bei­tet, sei­ne Mut­ter war an der Uni und wir muss­ten uns so or­ga­ni­sie­ren. Die Ge­sell­schaft muss jetzt mal eva­lu­ie­ren, wie ist es ge­gan­gen und wel­che Er­fah­run­gen ha­ben wir aus den letz­ten 35 Jah­ren ge­won­nen. Am Schluss, Ende 2013, müs­sen wir uns ent­schei­den, was wir an­ders ma­chen wol­len. Was gut war und was nicht. 

Ta­ges­ein­rich­tun­gen sind ein biss­chen wie Schu­len, emp­find­lich ge­gen­über Kri­tik. Man trifft ganz oft Ab­wehr, wenn ich zur Re­fle­xi­on auf­ru­fe. Wenn ich El­tern oder Jour­na­lis­ten fra­ge, ob es ih­nen dort ge­fällt, wo sie ar­bei­ten, höre ich auch ver­schie­de­ne Ant­wor­ten. Ich habe aber auch nie das Ge­fühl ge­habt, dass Kin­der­be­treu­ungs­stät­ten ei­nem Kind ge­scha­det ha­ben. Aber ich weiss, es gibt gros­se Un­ter­schie­de bei den Kin­dern. Vie­le kön­nen nicht so lan­ge am Tag ohne El­tern sein, an­de­re schaf­fen das pro­blem­los. Und wir müs­sen im­mer auch er­wäh­nen, dass es Kin­der gibt, die ganz glück­lich sind, den Tag ohne die El­tern zu ver­brin­gen und da­für sind die­se Ein­rich­tun­gen sehr gut. 

swiss­mom: Wir ha­ben in der Schweiz auch ei­nen sehr kur­zen Mut­ter­schafts­ur­laub und kei­nen Va­ter­schafts­ur­laub. Das heisst, die Kin­der müs­sen schon sehr früh in eine Kin­der­be­treu­ungs­stät­te. Da ist si­cher auch die Po­li­tik ge­fragt, Lö­sun­gen zu fin­den. Man muss si­cher vor al­lem das Wohl des Kind be­ob­ach­ten und in Be­tracht zie­hen.

Je­sper Juul: Ja, das ist sehr wich­tig. Es kom­men sonst die kol­lek­ti­vis­ti­schen As­pek­te auf. Wir ken­nen die­se ja aus der al­ten So­wjet­uni­on, aus der ehe­ma­li­gen DDR und aus den Kib­bu­zen in Is­ra­el. Die­se Ein­rich­tun­gen wa­ren für die Kin­der nicht op­ti­mal und ge­nau dies soll­ten wir nicht wie­der­ho­len, nur weil wir ra­tio­nal den­ken. Das geht nicht. Ei­ner mei­ner bes­ten Freun­de sagt, wer über Frau­en und Kin­der ra­tio­nal denkt, macht ein gros­sen Feh­ler (und lacht...). Aber wenn mehr und mehr Müt­ter hier in der Schweiz ins Be­rufs­le­ben ein­stei­gen oder ein­stei­gen müs­sen, dann müs­sen die­se Müt­ter und Vä­ter für den Mut­ter­schafts­ur­laub und Va­ter­schafts­ur­laub kämp­fen, dass die­ser Ur­laub aus­ge­baut wird. Und was noch ganz wich­tig ist, nen­nen Sie dies doch an­ders, das ist doch kein Ur­laub, das ist kei­ne Er­ho­lung (und lacht..)! 

Ihre 16 Wo­chen in der Schweiz sind de­fi­ni­tiv zu kurz. Die­se Zeit ist so wich­tig. Die Kin­der und El­tern müs­sen eine per­sön­li­che Bin­dung (wir nen­nen dies im Eng­li­schen at­tach­ment) ent­wi­ckeln und da sind 16 Wo­chen viel zu we­nig. Dies kann man mit der For­schung un­ter­mau­ern. Ich fin­de, dass Vä­ter auch ent­schei­den müs­sen, ob sie ih­ren Va­ter­schafts­ur­laub wahr­neh­men wol­len. Ich bin über­zeugt, wenn Vä­ter das wirk­lich wol­len, dann kommt es, kei­ne Fra­ge. Und des­we­gen sage ich auch hier, dass Vä­ter mit den Müt­tern ge­mein­sam hier in der Schweiz dar­um kämp­fen müs­sen. Lei­der wer­den oft Vä­ter in der Po­li­tik mehr ernst ge­nom­men als Frau­en, dar­um ist ein ge­mein­sa­mes Ein­ste­hen wich­tig. Das ist ein wich­ti­ge po­li­ti­sche Fra­ge, denn sonst kom­men oft so schnel­le Hal­b­lö­sun­gen zu­stan­de. Denn gibt über­all, in je­der Ge­mein­de, an­de­re Lö­sun­gen und kei­ne ein­heit­li­che Qua­li­tät. Nun müs­sen Sie alle als El­tern in der Schweiz Druck auf die Po­li­tik aus­üben, denn gute Kin­der­be­treu­ung ist teu­er, wenn man sie rich­tig ma­chen will. 

swiss­mom: In der Schweiz hat die Wirt­schaft vor al­lem Mühe mit Teil­zeit­ar­beit.  Die mo­der­nen Vä­ter su­chen oft ei­nen Weg, mehr Zeit mit ih­ren Kin­dern zu ver­brin­gen. Sie neh­men oft Ein­schrän­kun­gen in Kauf. Kar­rie­re­pla­nung, Be­rufs­vor­sor­ge kom­men da oft zu kurz.

Je­sper Juul: Wenn Män­ner we­ni­ger Kar­rie­re­mög­lich­kei­ten ha­ben, dann ist es oft we­gen Man­gel an Phan­ta­sie und Fle­xi­bi­li­tät der Ar­beit­ge­ber. Vie­le Frau­en mei­nen oft, dass Kin­der ihre Kar­rie­re ge­kos­tet ha­ben. Da­bei stimmt das nicht, auch nach ei­ner Mut­ter­schafts­pau­se ist es mög­lich - manch­mal auch noch nach ein paar Jah­ren - wie­der ein­zu­stei­gen. Denn in die­ser Zeit ha­ben die El­tern neue Er­fah­run­gen und Kom­pe­ten­zen ge­sam­melt, die sie im Be­ruf ein­brin­gen kön­nen. Es ist nur eine Fra­ge der Pla­nung. 

In mei­ner Fir­ma ar­bei­ten 80% Frau­en und in­ter­es­sant ist, dass Frau­en, die Gross­müt­ter ge­wor­den sind, auch ger­ne wie­der Teil­zeit ar­bei­ten, um ihre Töch­ter und Söh­ne zu un­ter­stüt­zen und Zeit mit ih­ren En­keln zu ver­brin­gen. Und dies lässt sich im­mer ein­rich­ten. Die­se Mit­ar­bei­ter und -in­nen sind dann auch viel loya­ler ih­rem Ar­beit­ge­ber ge­gen­über und sie ha­ben viel mehr Spass an ih­rem Be­ruf, weil sie eine gute Work-Life-Ba­lan­ce ha­ben. Eine Mut­ter, die ar­bei­tet ist Gold wert, weil sie ihre Er­fah­run­gen in die Wirt­schaft ein­brin­gen kann. Die Schwei­zer Un­ter­neh­mer müs­sen über den Geld­beu­tel hin­weg se­hen. Es lässt sich nicht al­les kal­ku­lie­ren, es gibt vie­le Qua­li­täts­fak­to­ren, wie z. Bsp. die Mo­ti­va­ti­on. Und die­se Fak­to­ren sind ge­nau­so wich­tig. 

Und ein wei­te­rer As­pekt ist auch ganz wich­tig. Ha­ben Sie schon dar­an ge­dacht, dass Sie als Mut­ter auch Zeit für sich selbst brau­chen? Das ist für ein ge­sun­des Fa­mi­li­en­le­ben es­sen­ti­ell. Eine aus­ge­wo­ge­ne Mut­ter kann viel zu ei­nem frucht­ba­ren Fa­mi­li­en­le­ben bei­tra­gen. Neh­men Sie sich die­se In­seln. Da kommt mir das afri­ka­ni­sche Sprich­wort in den Sinn: "It ta­kes a vil­la­ge to rai­se a child" (es braucht ein Dorf, um ein Kind gross zu zie­hen). Tat­sa­che ist aber, wir ha­ben kei­ne Dör­fer mehr. Und wenn man mit­ten in ei­ner Stadt wie Zü­rich oder Bern lebt, dann lebt man da. Wür­de man ein klei­nes Kind da al­lei­ne las­sen, wäre es schnell über­fah­ren oder ge­raubt. Dies be­deu­tet, man soll mit Kin­dern vor­sich­tig sein. Al­ter­na­ti­ves Le­ben, Wohn­ge­mein­schaf­ten auf dem Land sind für Kin­der oft ein idea­les Le­ben, aber dies nur bis zur Pu­ber­tät und dann wird es lang­wei­lig. Also müs­sen Sie fle­xi­bel sein und ihre Le­bens­for­men auch im­mer wie­der an­pas­sen. Denn trotz Kri­se ist fast al­les mög­lich. 

Das gilt auch für Schei­dun­gen. Auch hier sind fle­xi­ble Lö­sun­gen ge­fragt. Kin­der sind im­mer loy­al und hal­ten zu den El­tern. Erst wenn die­se Schei­dungs­kin­der er­wach­sen sind, wer­den wir mehr dar­über er­fah­ren. Dies gilt auch für Kin­der, die durch Ei- und Sa­men­spen­de ge­zeugt wur­den. Die­se Kin­der wol­len er­fah­ren, wer ihre El­tern sind und da ha­ben wir schon Er­fah­run­gen und ler­nen lang­sam, dass Kin­der mit sol­chen Um­stän­den Mühe ha­ben. Ich bin ja et­was alt­mo­disch, ich weiss. In Dä­ne­mark ha­ben wir eine Ent­schei­dung ge­trof­fen, dass je­des Paar das Recht hat, drei Fer­ti­li­täts­be­hand­lun­gen kos­ten­los zu er­hal­ten. Frau­en plä­die­ren heu­te oft, sie hät­ten ein Recht auf ein Kind. In­ter­es­sant ist zu be­ob­ach­ten, was ist pas­siert, wenn Kin­der zu ha­ben, ein Recht ist und nicht mehr ein Pri­vi­leg. Das ist eine ganz neue Rol­le. Ich bin nicht Pes­si­mist, aber ich habe eine Ah­nung, wie sich das ent­wi­ckelt. Nun kommt wie­der eine Ge­nera­ti­on von Pro­jekt­kin­dern. In den 60er Jah­ren wa­ren wir so weit, dass wir For­men schu­fen, dass der Sohn nicht die Fir­ma des Va­ters über­neh­men muss­te und ha­ben uns da­von be­freit. Jetzt pla­nen wir al­les, auch das Kin­der­krie­gen und das passt nicht im­mer ins Kon­zept der Na­tur. So kommt auch eine ganz an­de­re Hal­tung ge­gen­über Kin­dern auf. 

Ich will die al­ten Zei­ten nicht her­auf be­schwö­ren. Sie wa­ren für Frau­en nicht ein­fach. Wir wol­len nicht mehr die ers­ten Le­bens­jah­re mit un­se­ren Kin­dern ver­brin­gen, wir wol­len ar­bei­ten und uns aus­bil­den und da­für braucht es ein Netz. Und wir müs­sen be­den­ken, wie die­ser Zu­stand für un­se­re Kin­der ist. Wenn Sie die Mög­lich­keit ha­ben, die Kin­der­be­treu­ung mit dem Her­zen zu ent­schei­den, dann ma­chen Sie dies doch bit­te. Kin­der kön­nen sich an­pas­sen: Aber sei­en Sie auf­merk­sam, be­ob­ach­ten sie Ihre Kin­der gut. Hö­ren Sie hin und scheu­en Sie nicht, fle­xi­bel zu sein, an­de­re Mög­lich­kei­ten auch zu eva­lu­ie­ren und im­mer neu zu reva­lu­ie­ren. 

Mein En­kel­kind z.Bsp. ist bei ei­ner Ta­ges­mut­ter und es ge­fällt ihm dort sehr. Im ers­ten Jahr war das Kind im­mer sehr ak­tiv, fast zu ak­tiv und wir dach­ten das Kind ist ein­fach so. Plötz­lich war die Ta­ges­mut­ter krank und mein En­kel­kind kam zu ei­ner an­de­ren Ta­ges­mut­ter. Und sie­he da, ab dem ers­ten Tag war al­les an­ders. Mein En­kel­kind war müde nach dem Tag aus­ser Haus. Mei­ne Schwie­ger­toch­ter hat dann die Ant­wort ge­fun­den. Die ers­te Ta­ges­mut­ter hat im­mer Mäd­chen be­treut und hat­te vie­le gute Qua­li­tä­ten, nur kei­ne Er­fah­rung mit Bu­ben. Sie sel­ber hat­te drei Töch­ter. Sie konn­te mei­nem En­kel­sohn auch kei­nen Wunsch aus­schla­gen, er hat sie stets um den Fin­ger ge­wi­ckelt. Die neue Ta­ges­mut­ter hat­te vier Söh­ne. Mit ih­rem an­de­ren Um­gang, mit ei­ner neu­en Ta­ges­struk­tur, hat sich mein En­kel­kind bes­ser ge­fühlt. Ob­wohl - und dies zu be­to­nen ist sehr wich­tig - mein En­kel sei­ne ers­te Ta­ges­mut­ter liebt und sie noch im­mer ab und zu trifft. Aber für ihn war es bes­ser, mit ei­ner Ta­ges­mut­ter den Tag zu ver­brin­gen, die vier Jungs gross ge­zo­gen hat. Wäre er bei der ers­ten Ta­ges­mut­ter ge­blie­ben, wäre er wohl in den Kin­der­gar­ten ge­kom­men mit dem Stem­pel, er sei hy­per­ak­tiv und man kön­ne ihm nicht nein sa­gen. 

Sie se­hen, wie Be­zie­hun­gen ei­nen Ein­fluss auch auf die Kin­der ha­ben. So klei­ne Nu­an­cen kön­nen Ver­än­de­run­gen her­vor ru­fen. Hö­ren Sie auf ihr Bauch­ge­fühl. Manch­mal stimmt fast al­les, nur für das eine Kind kann die eine Um­ge­bung gut sein, für das an­de­re kann sie schlecht sein. Wir müs­sen für hoch­qua­li­fi­zier­te Kin­der­park­plät­ze kämp­fen, denn es sind Kin­der­park­plät­ze. Ent­schul­di­gen Sie den Be­griff. Es muss so sein, ich weiss, aber dann sol­len die Kin­der gut und op­ti­mal be­treut wer­den. Das nächs­te Ka­pi­tel sind die Ganz­ta­ges­schu­len, auch hier müs­sen wir kin­der­ge­rech­te In­sti­tu­tio­nen ein­rich­ten. Den­ken Sie stets an die Be­dürf­nis­se Ih­res Kin­des. Dazu braucht es Geld, dar­um for­dern Sie von der Po­li­tik und Wirt­schaft.

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7/27/2019
Jesper Juul

Die Star­ken für die Schwa­chen

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Letzte Aktualisierung: 24.03.2020, AS