ADHS und Familie

Interview mit Isolde Schaffter-Wieland

Mutter, Säugling und lebhafte Geschwister am Boden
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ADHS Organisation Schweiz

swissmom: Über ADHS im Kindesalter wird viel geredet. Dass auch Erwachsene an ADHS leiden können, wird erst seit einiger Zeit zum Thema. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Isolde Schaffter-Wieland: Man ging früher davon aus, dass sich ADHS nach der Pubertät auswächst und dachte nicht daran, dass auch ein erwachsener Mensch noch unter den Symptomen leiden kann. Zum Teil verändern sich die Symptome ja auch. Die Hyperaktivität, die man als Aussenstehender bei Kindern sehr deutlich wahrnimmt, spürt man bei einem Erwachsenen nicht mehr so sehr, denn sie richtet sich nach innen. Die Unruhe, die ein Kind über die Bewegung nach aussen abgeben kann, ist bei einem Erwachsenen sozusagen eingesperrt. Die betroffene Person aber spürt diese innere Unruhe sehr stark. Im deutschsprachigen Raum wurde vor noch nicht allzu langer Zeit - etwa um das Jahr 2000 -  bekannt, dass auch ein Erwachsener noch betroffen sein kann. Das Wissen über ADHS im Erwachsenenalter steckt also noch in den Kinderschuhen und es fehlen auch die Erfahrungswerte. 

swissmom: ADHS ist ja auch nicht ganz leicht zu diagnostizieren. Welche typischen Anzeichen deuten bei einem Erwachsenen darauf hin, dass er oder sie betroffen sein könnte? 

Isolde Schaffter-Wieland: Beim Erwachsenen zeigt sich ADHS einerseits durch Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Ruhelosigkeit. Auch mangelnde Affektkontrolle, Affektlabilität, emotionale Überreagibilität, Desorganisation und Impulsivität gehören bei Erwachsenen zu den Hauptmerkmalen.

Zur Person

Isolde Schaffter 123

Isolde Schaffter-Wieland ist Fachstellenleiterin von Schönenwerd SO und Medienverantwortliche von adhs20+. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern, ADHS- und Beziehungscoach. Die Schweizerische Info- und Beratungsstelle adhs20+ setzt sich für Erwachsene mit ADHS ein.

swissmom: Das klingt ziemlich klar und eindeutig. Weshalb ist es dennoch schwierig, eine Diagnose zu stellen?

Isolde Schaffter-Wieland: Vieles im gesundheitlichen Bereich kann ganz ähnliche Auswirkungen haben wie ADHS. Wenn zum Beispiel jemand unter Depressionen und Stimmungsschwankungen leidet, hat er zwangsläufig auch gelegentlich Konzentrationsschwierigkeiten, kann nicht so gut schlafen und wird affektlabil. Auch eine Schilddrüsenstörung kann Symptome von Überreaktivität, Konzentrationsmangel und schlechter Merkfähigkeit auslösen. Ebenso ein Eisenmangel: Dieser führt zu Müdigkeit und Erschöpfung, was wiederum zu Konzentrationsschwierigkeiten oder Schlafstörungen führt. Darum muss bei einer Abklärung zuerst überprüft werden, ob das alles in Ordnung ist. 

swissmom: Bei Kindern ist es ja oft so, dass z. B. eine Lehrperson zu einer Abklärung rät. Wie wird man als Erwachsener darauf aufmerksam, dass ADHS ein Thema sein könnte?

Isolde Schaffter-Wieland: Bei Erwachsenen merkt oft die Partnerin oder der Partner, dass etwas nicht stimmt. Oder die betroffene Person selber wird aufmerksam, weil sie immer wieder ansteht, sei dies beruflich oder auf der Beziehungsebene. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt: Wenn die ADHS im Erwachsenenalter nicht festgestellt wird, kann sich eine sogenannte Begleiterkrankung aufbauen, hinter der sie sich versteckt. Jemand, der immer wieder scheitert im Leben, entwickelt Depressionen. Der Arzt behandelt dieses Symptom mit Antidepressiva, aber die Ursache, die dahintersteckt, wird nicht erkannt und es kommt zu keiner richtigen Verbesserung der Situation. Auch andere psychische Erkrankungen können eine Folge von unerkannter ADHS sein. Sucht ist ein weiteres Problem. Oft liegt hinter einer Abhängigkeit eine ADHS-Thematik verborgen. 

swissmom: Wie ist das nun in der Familie? Mit welchen Herausforderungen und Problemen kämpft zum Beispiel eine Mutter, die an ADHS leidet?

Isolde Schaffter-Wieland: ADHS-Betroffene haben sehr hohe Ansprüche an das, was sie leisten wollen und sollten. Ihre Messlatte liegt sehr hoch. Dies bedeutet, dass sie sich ständig regulieren und anpassen müssen, was zu einem grossen Druck führt. Eine Mutter, die von ADHS betroffen ist, möchte ein gutes, ein perfektes Mami sein. Wenn sie aber zum Beispiel Probleme hat im Organisieren, im Planen und im Aufräumen, dann verzettelt sie sich. Daraus ergibt sich schnell ein Chaos und eine Überforderung. Eine Mutter, die nicht weiss, dass sie eigentlich ADHS hat, kann eine Erschöpfungsdepression entwickeln und das Umfeld beurteilt sie als "die Frau, die nichts im Griff hat". Sie kann ihren Kindern Stabilität und Strukturen nicht vermitteln, denn was ihr fehlt, kann sie auch nicht weitergeben. Es gibt aber auch betroffene Frauen, die irgendwann, ohne dass sie jemals abgeklärt worden wären, gemerkt haben, dass sie Strukturen und Strategien brauchen. Sie sind dann fast überstrukturiert und versuchen, auch ihre Kinder ganz klar zu strukturieren und zu kontrollieren. Ein Kind - erst recht eines, das selber von ADHS betroffen ist - wirft das sorgsam aufgebaute System über den Haufen und die Mutter gerät extrem unter Druck. Solche Mütter spüren, wie sehr sie mit dem Alltag überfordert sind. Sie möchten ihre Sache so gerne gut machen und es klappt beim besten Willen nicht. 

swissmom: Menschen mit ADHS gelten als sehr einfallsreich und kreativ. Ergeben sich daraus auch Chancen für das Familienleben?

Isolde Schaffter-Wieland: Natürlich. Viele ADHS-Betroffene sind musisch veranlagt und kreativ. Sie basteln mit den Kindern oder haben das grosse Bedürfnis, ein schönes Zuhause zu gestalten. In diesen Stärken liegen ganz klar auch Ressourcen, aber nur, wenn der Freiraum geschaffen werden kann, um sich in diesen Fähigkeiten zu verwirklichen. Ein Plus ist auch die grosse Empathiefähigkeit. 

swissmom: Bisher haben wir von den Müttern geredet. Womit könnte ein Vater Mühe haben, der von ADHS betroffen ist? 

Isolde Schaffter-Wieland: Es kann gut sein, dass ein solcher Vater am Arbeitsplatz sehr effizient funktioniert. Damit das klappt, erfordert dies sehr viel Anpassungsleistung. Wenn er abends nach Hause kommt, ist er also wahrscheinlich ziemlich müde. Ich stelle in den Gesprächen mit Betroffenen immer wieder fest, dass der Wechsel vom Arbeitsplatz nach Hause für viele eine Überforderung darstellt. Wenn dann ein Vater heimkommt in das Tohuwabohu, das dort herrscht, ist er nicht vorbereitet auf das, was ihn erwartet und es haut ihn aus den Schuhen. Für die Frau, die den ganzen Tag zu den Kindern geschaut hat, ist es auch nicht unbedingt hilfreich, wenn der Mann nicht mit einsteigen kann. Die Frauen sagen mir dann oft: "Jetzt habe ich einfach noch ein Kind mehr ihm Haus." Das klingt hart, viele Frauen erleben das aber wirklich so. 

swissmom: Wie ist es in der Schwangerschaft, wenn eine Frau bereits eine ADHS diagnostiziert bekommen hat und Medikamente nehmen muss? Werden diese dann abgesetzt?

Isolde Schaffter-Wieland: Im Gegensatz zu den Antidepressiva, die in der Schwangerschaft nach Absprache mit dem Arzt weiter eingenommen werden können, wird die ADHS-Medikation abgesetzt. Dies ist so, weil die Erfahrungswerte fehlen. Es existiert erst eine kleine Studie mit Frauen, die ungeplant schwanger geworden sind und Medikamente eingenommen haben. Zwar kam es weder zu Schädigungen beim Kind noch zu Aborten, dennoch gilt generell, dass die Medikation abgesetzt wird. Man hat aber auch festgestellt, dass in der Schwangerschaft die ADHS-Symptome in den meisten Fällen nicht spürbar sind, dies aufgrund der hormonellen Situation. Die Schwangerschaft ist für betroffene Frauen häufig die beste Zeit ihres Lebens. 

swissmom: Dafür ist dann das "Erwachen" nach der Geburt umso heftiger?

Isolde Schaffter-Wieland: Das "Erwachen" nach der Geburt, wenn der gesamte Hormonhaushalt wieder umgestellt wird, ist auch schwierig für jemanden, der nicht von ADHS betroffen ist. Man hat aber festgestellt, dass Frauen mit ADHS häufiger als andere Mütter an einer Postnatalen Depression leiden. 

swissmom: Kommen wir auf einen weiteren Aspekt zu sprechen: Welche Auswirkungen hat ADHS auf die Partnerschaft?

Isolde Schaffter-Wieland: Wenn ADHS mit im Spiel ist, ist das wie ein Dreiecksverhältnis. ADHS ist "die unbekannte Dritte" oder, wenn eine Diagnose gestellt worden ist, "die bekannte Dritte". Oft werden Beziehungen zwischen Betroffenen geschlossen, weil man sich erst richtig vollständig fühlt durch den anderen, der diese Betroffenheit auch hat. Da besteht gewissermassen eine Seelenverwandtschaft. Kommen ein hyperaktiver und ein hypoaktiver Typ zusammen, fühlt sich das spannend an, der Hyperaktive lockt den Hypoaktiven aus der Reserve. Mit der Zeit kann das aber auch anstrengend werden, weil der Hypoaktive nicht mitziehen kann, antriebslos ist und immer wieder Motivationsspritzen braucht. Zwei Hyperaktive schwingen miteinander, aber auch dort kann es zu Verschleisserscheinungen kommen. Zum Beispiel, wenn ein Paar eine gute Basis im Sport gefunden hat und der Partner aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mitmachen kann. Der eine zieht dann auf dem gleichen hohen Niveau weiter, während der andere seine Symptome nicht mehr über den Sport herunterfahren kann und etwas verliert, was ihm geholfen hat. Zwei Hypoaktive, die zusammenkommen, verstehen sich zwar gut, der Alltag ist unter Umständen aber auch entsprechend schwieriger zu bewältigen.

swissmom: Welche Herausforderungen bringt ADHS in eine Beziehung, in der nur ein Partner betroffen ist?

Isolde Schaffter-Wieland: Eine Schwierigkeit ist die Impulsivität. Bei Männern ist es häufig so, dass sie explodieren, wenn sie an ihre Grenzen kommen, dass sie "auf ihren Gefühlen ausrutschen" und sie nicht mehr im Griff haben. Oft erleben sie es auch als Bevormundung, wenn man sie führen oder anleiten möchte. Es kann aber auch sein, dass der nichtbetroffene Partner Verantwortung übernimmt für die Dinge, die der andere nicht kann. Dies kann beim nichtbetroffenen Partner zu Erschöpfung führen, vor allem dann, wenn noch Kinder im Spiel sind. Bei den Frauen kommt es oft vor, dass ihre Desorganisation den Männern sauer aufstösst. Generell ist zu beobachten: Wenn das Verständnis füreinander fehlt, gerät die Kommunikation ins Stocken und ist diese erst einmal blockiert, kommen die Anschuldigungen und dann wird es ganz schwierig. Leider suchen Männer oft erst dann Hilfe, wenn sie das Messer bereits am Hals haben. 

swissmom: Man geht davon aus, dass ADHS erblich bedingt ist. Was bedeutet es für betroffene Eltern, wenn ihr Kind ebenfalls ADHS hat? 

Isolde Schaffter-Wieland: Ein ADHS-veranlagtes Kind zu haben, bedeutet nicht, dass die Eltern Schwierigkeiten haben müssen mit ihm. Diese Kinder können eine ganz grosse Bereicherung sein mit ihrem Wesen. Wenn sie in einem verständnisvollen, fordernden und fördernden Umfeld aufwachsen dürfen, entwickeln sie mehr Selbstvertrauen  und können mit ihrer Besonderheit besser umgehen. 

swissmom: Was ist in Ihren Augen das Wichtigste im Zusammenhang mit dem Thema ADHS?

Isolde Schaffter-Wieland: Dadurch, dass wir in unserer Gesellschaft diese Spaltung haben - hier diejenigen, die sagen ADHS sei eine Modediagnose, da diejenigen, die sagen "Doch, ADHS gibt es und muss erst genommen werden" - ist es ganz wichtig, sich am richtigen Ort Hilfe zu holen. Für Erwachsene ist adhs20+ eine Anlaufstelle der ersten Wahl. Information, Aufklärung, sich eine Meinung bilden, das alles ist wichtig für Erwachsene, die den Verdacht haben, an ADHS zu leiden. ADHS ist in meinen Augen eine Veranlagung und wird erst problematisch, wenn die betroffene Person einen Leidensdruck hat. Das Ziel ist, die Symptome zu mildern, dann wird der Leidensdruck geringer und die Person ist anders funktionsfähig. Wichtig ist auch, dass die Gesellschaft informiert und sensibilisiert wird, damit sie die vielen Fähigkeiten und Ressourcen von Menschen mit ADHS schätzen lernt

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