Im Einsatz für Familien im Lebenssturm
Interview mit Heike Witzgall
swissmom: Worum handelt es sich beim Verein "herzensbilder.ch"?
Heike Witzgall: "herzensbilder.ch" ist ein Verein, in dem sich über 200 Fotografen, Make-up Artists, Coiffeure, Visagisten und viele Helfer im Hintergrund zusammengeschlossen haben, um Familien, die einen ganz schweren Sturm durchmachen, mit Fotos zu unterstützen. Dies ganz unkompliziert, sei es zu Hause, in der Klinik, auf der Intensivstation. Geboren wurde das Ganze aus der Idee heraus, dass man, wenn Kinder davonfliegen und die Eltern trauernd zurückbleiben, etwas hat, das beweist, dass das Kind Teil des Lebens der Eltern gewesen ist. Wir leisten diese Arbeit ehrenamtlich. Das Herzensbilder-Team schaut, dass wir alles, was wir tun, im Sinne der Eltern tun. Uns ist wichtig, dass auch dann, wenn sich Pflegepersonal oder Verwandte an uns wenden, dahinter immer der Wunsch der Eltern steht. Wir gehen auch nicht von uns aus auf Eltern zu, sondern werden von Spitälern, Angehörigen oder den Familien selbst kontaktiert. Dann kommen wir gerne und schenken den Familien diese wichtigen Shootings.
swissmom: Warum sind Fotos in einer solchen Lebenssituation wichtig?
Heike Witzgall: Es geht darum, für die Familien ein Stück Leben, ein Stück Erfahrung, ein Stück von der Familiengeschichte festzuhalten. Ein Foto bleibt immer, das vergeht nicht. Wenn Sie sich Fotos von Ihren Grosseltern anschauen, von Ihren Urgrosseltern, gibt es vielleicht Momentaufnahmen oder Hochzeitsfotos, die die Erinnerung an sie wachhalten. Fotos bleiben, das ist sehr tröstlich für die Familien. Und natürlich auch für uns, denn es ist schön, dass wir unseren Beitrag leisten dürfen, indem wir betroffenen Familien diese wichtigen Bilder schenken. Das Shooting selbst führt die Familie auch manchmal ein Stück weit raus aus dem Alltag, raus aus dem Sturm.
Heike Witzgall ist Fotografin und Mutter von zwei Kindern im Teenageralter. Als Fotoengel engagiert sie sich ehrenamtlich für den Verein "herzensbilder.ch". Dieser schenkt Familien von still geborenen, schwerkranken, schwerstbehinderten und viel zu früh geborenen Kindern kostenlose Fotoshootings mit Profi-Fotografen.
swissmom: Die Fotoshootings finden oft im Spital statt. Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Spitalpersonal?
Heike Witzgall: Wir haben von vielen Spitälern eine enorme Unterstützung, auch wenn es darum geht, Kleinigkeiten zu organisieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir sehr willkommen sind in den Spitälern. Ich glaube, besser als das Pflegepersonal und die Hebammen weiss keiner, wie wichtig unsere Fotos sein können. Die Pflegenden in den Spitälern sind Menschen, vor denen ich nur meinen Hut ziehen kann. Was wir Fotografen mal kurz erleben, wenn wir zwei, drei Stunden in diese Welt eintauchen, das erlebt das Pflegepersonal jeden Tag. Sie haben jeden Tag mit Glück zu tun, aber auch jeden Tag mit Trauer und Loslassen. Das ist es, was uns Fotoengeln dort immer wieder begegnet: Wie nahe die beiden Dinge beieinanderliegen können. Wie gross das Glück ist, wenn es kleine Fortschritte oder eine kleine Hoffnung gibt, aber auch, wie schnell es einen erschüttern kann, wenn es andersherum geht. Emotional sind das Höchstleistungen, was in Spitälern und Familien jeden Tag erbracht wird. Ich kann gar nicht genug Wertschätzung dafür aussprechen.
swissmom: Welches ist Ihre persönliche Motivation, sich als Fotoengel für "herzensbilder.ch" zu engagieren?
Heike Witzgall: Ich habe zwei gesunde Kinder. Die Geburt meiner Tochter war sehr schwierig und ihr Leben hing am seidenen Faden. Das ist jetzt fast sechzehn Jahre her und ich bin noch immer so dankbar dafür, dass das so gut ausgegangen ist, weil zur richtigen Zeit der richtige Arzt ein Machtwort gesprochen hat. Man denkt immer: Kinder kriegen, das schaffen Milliarden von Frauen. Schlimme Dinge passieren allen, aber einem selbst nicht. Dass man innerhalb des Bruchteils einer Sekunde in den totalen Sturm katapultiert werden kann, mag man sich nicht vorstellen. Mir wurde das bei der Geburt meiner Tochter mehr als bewusst. Als ich vor vier Jahren in die Schweiz kam und von "herzensbilder.ch" erfuhr, sah ich darin eine Möglichkeit, diese Dankbarkeit, die ich in mir hatte, mit etwas Gutem, Bleibenden auszudrücken.
swissmom: Als Fotografin werden Sie meistens für die schönen Momente im Leben engagiert, bei Einsätzen für "herzensbilder.ch" haben Sie mit schmerzhaften Lebenssituationen zu tun. Wie unterscheidet sich diese Aufgabe von Ihrem Berufsalltag?
Heike Witzgall: Wer das Schöne hat, darf das Hässliche nicht fürchten. Natürlich ist es schwer, in ein Krankenzimmer zu gehen, wenn man weiss, da drin tobt gerade im Moment ein heftiger Sturm. Es ist immer schwer, an einer Haustüre einer Familie zu stehen, von der man weiss, dass sie gerade die Hölle durchmacht. Beim Shooten selbst gibt es dann aber auch wieder viele gute Emotionen. Man darf auch erleben, wie viel ganz tiefe Liebe in so einer Familie sein kann, wie viel Zusammenhalt. Da ist nicht nur die Krankheit, nicht nur der Sturm. Da ist zwischendrin auch ganz viel Gutes eingebettet. Dies sehen und erleben zu dürfen, wiegt die Angst, die Unsicherheiten und die emotionale Belastung wieder auf.
swissmom: Als Fotografin sind Sie bestimmt auch künstlerisch gefordert, da die Rahmenbedingungen anders sind als bei einem gewöhnlichen Shooting.
Heike Witzgall: Im Klinikalltag machen wir, was man aus einem Klinikzimmer eben machen kann. Es ist ein wenig wie Kochen: Sie schauen in den Kühlschrank und es ist so gut wie nichts drin. Da müssen Sie sehen, dass Sie mit dem, was da ist, etwas zaubern können, damit die Familie etwas Gutes zu Essen hat, wenn sie heimkommt. Es wird dann natürlich kein Fünfgang-Menü, aber es wird eine gute Hauptmahlzeit und alle werden satt. Wenn die Betroffenen aus medizinischer Sicht nach draussen dürfen, kann man schöne Sachen in der Natur machen, zum Beispiel im Park der Klinik, oder irgendwo in der Nähe, wo es gutes Licht und Natur gibt. Das gibt dann richtig schöne Bilder, fast wie bei einem regulären Shooting.
swissmom: Wie muss jemand vorgehen, der ein solches Shooting bekommen möchte? An wen wendet man sich?
Heike Witzgall: Man wendet sich an den Verein "herzensbilder.ch", bitte niemals an die Fotografen direkt, denn sonst wäre es für uns nicht mehr freiwillig. Die Freiwilligkeit und auch der emotionale Schutz der Engel bleiben so weitgehend gewährleistet. Durch den Weg über "herzensbilder.ch" wird das Shooting fair, diskret und wertschätzend aufgegleist. Diesen Weg gilt es einzuhalten, damit wir Fotografen die Möglichkeit haben, darüber nachzudenken, in uns hinein zu fühlen um danach zu sagen, ob wir den Auftrag annehmen können.
swissmom: Werden Sie für Ihre Einsätze als Fotoengel auch geschult?
Heike Witzgall: Es werden Workshops organisiert, in denen wir uns speziell für diese Aufgabe fortbilden können. Wir haben Treffen und Veranstaltungen, wo wir uns weiterbilden und uns miteinander austauschen und das ist auch sehr wichtig. Es wäre schwierig, wenn man mit der Aufgabe allein gelassen würde. Es wird von "herzensbilder.ch" alles dafür getan, dass wir den Familien gute Begleiter sein können für diese kurze Zeit, in der wir mit ihnen arbeiten.
swissmom: Wie geht man mit dem Schweren um, das einem bei solchen Einsätzen begegnet?
Heike Witzgall: Man muss den Weg finden zwischen Mitleiden und Mitgefühl. Mitleid hilft unseren Familien gar nichts. Aber wir alle haben ein Höchstmass an Mitgefühl. Wenn uns eine Aufgabe so tief berührt, dass wir selber darunter kaputtgehen, dann macht es keinen Sinn. Wir können uns auch jederzeit ausklinken, dürfen sagen, wenn wir einen Einsatz nicht machen können oder Zeit brauchen zur Verarbeitung. Da gibt es noch über 200 andere Helfer und es findet sich immer jemand, der gut für die Familien da sein kann. Es ist nichts für uns ein "Muss". Wir müssen nicht so und so viele Einsätze machen pro pro Jahr und wir sind auch vollkommen frei, wie wir arbeiten. Wir sind innerhalb unserer Vereinigung einfach gut aufgehoben. Jeder von uns weiss, dass man, wenn etwas wäre, jederzeit jeden anrufen könnte. Es ist alles grossartig organisiert und unter den Engeln gibt es einen sehr guten Zusammenhalt. Das hilft uns, uns auf das konzentrieren zu können, was wir neben unseren hauptberuflichen Tätigkeiten als Fotografen, Visagisten, Coiffeusen freiwillig leisten.
swissmom: Ist "herzensbilder.ch" in der ganzen Schweiz tätig, oder nur in der Deutschschweiz?
Heike Witzgall: Grundsätzlich arbeiten wir in der ganzen Deutschschweiz. Es gibt ein paar Ecken, wo wir ein paar Fotografen mehr brauchen könnten. In Zürich beispielsweise gibt es mehr Bedarf, aber wenn Not am Mann ist, fahren wir auch mal etwas weiter zu einem Einsatz. Es findet sich immer eine Lösung.
swissmom: "herzensbilder.ch" ist seit seiner Gründung im Jahr 2013 stark gewachsen. Kann man sagen, dass es ein grosses Bedürfnis für eine solche Arbeit gab?
Heike Witzgall: Wir kriegen oftmals Feedback von Eltern, Grosseltern und anderen Verwandten, aber auch von völlig fremden Leuten. Sie kommen auf uns zu und sagen, sie wünschten, so etwas hätte es schon in der Zeit gegeben, als sie in einer ähnlichen Situation waren. Es ist sicherlich auch schon bei Leuten auf Unverständnis gestossen, dass man in solchen Situationen Fotos macht. Aber die Fotos sind für viele ein Bedürfnis und auch Teil der Trauerarbeit - eine Hilfe, das Ganze zu bewältigen. Die Bilder sind oft auch die Dokumentation einer Zeit, die man gemeinsam geschafft hat. Zeugen einer gewonnenen oder verlorenen Schlacht. Die betroffenen Familien leisten Unglaubliches: Jeden Morgen wieder aufzustehen, jeden Morgen wieder diese Motivation aufzubringen, dabei zu bleiben, weiter zu kämpfen - diese Eltern tun einfach alles und geben mehr, als ein Mensch eigentlich fähig ist, zu geben. Ich glaube, der Grund dafür, dass die Arbeit so gut wachsen konnte, liegt darin, dass das Ganze auf einem liebevollen Boden gebaut ist. Die Organisation "herzensbilder.ch" hat Liebe als Basis und Liebe kann nur Gutes gedeihen lassen.