Erschöpfte Mütter in den ersten Monaten nach der Geburt
Interview mit Anne Schlunegger
swissmom: Die erste Zeit mit dem Baby ist für viele Eltern wunderschön, zugleich auch anstrengend und kostet Energie. Welche Risiken birgt sie?
Anne Schlunegger: Die Präsenz rund um die Uhr und Schlafmangel können Mütter arg an ihre Grenzen führen. Ein Baby erfordert sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Die eigenen Bedürfnisse werden für lange Zeit zurückgestellt. Entspricht die Realität mit dem Baby nicht den Erwartungen einer Mutter, verringern sich aus Zeitmangel die Kontakte zu Freundinnen und Berufskolleginnen, macht sich eine Sehnsucht nach dem „Leben davor“ breit oder kommen zusätzlich noch Paarprobleme hinzu (z.B. zuwenig Unterstützung bei der Betreuung des Babys, Eifersucht, sexuelle Probleme), dann können Unzufriedenheit und Schamgefühle in die Isolation führen. Zu einer zusätzlichen Belastung führt der Mythos der „Glücklichen Mutter“, wenn der Austausch unter Müttern durch unsensible und intolerante Bemerkungen gekennzeichnet ist.
Anne Schlunegger, lic. phil. Psychologin FSP, arbeitet mit Kindern und Erwachsenen in ihrer Privatpraxis in Berikon (www.anneschlunegger.ch). Seit 2008 ist sie in der Fachgruppe PPS (postpartale psychische Störungen) des Verbandes Aargauer Psychologinnen und Psychologen tätig, die sich dafür einsetzt, psychische Schwierigkeiten junger Mütter rund um die Geburt zu enttabuisieren und darüber aufzuklären. Mehr zu den Vorträgen der Fachgruppe PPS und ihren Umfragen mit Müttern nach einer Geburt unter www.vap-psychologie.ch.
Im Verlauf des ersten Jahres nach einer Geburt (auch bei der zweiten oder bei späteren Geburten) können sich postnatale/postpartale psychische Störungen (PPS) entwickeln wie z.B. Depression
Die Symptome einer Depression sind: gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, verminderter Antrieb, Schlafstörungen, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, vermindertes Selbstvertrauen, Appetitverlust. Es kann auch grosse innere Unruhe und Gereiztheit auftreten. Bei schwerer Depression kommen noch Suizidgedanken hinzu.
Die Symptome einer postpartalen Angst- und Panikstörung können sein: Angst vor der Verantwortung Mutter zu sein oder Angst, dem Partner oder dem Baby könnte etwas passieren.
Die Symptome einer Zwangsstörung sind: Grübelzwänge oder bedrohliche Gedanken, das Kind oder sich selber zu verletzen oder Zwangshandlungen, sinnlose Rituale als Versuch, die Kontrolle nicht zu verlieren.
swissmom: Sich der neuen Situation nicht gewachsen zu fühlen, daran zweifeln, eine gute Mutter zu sein, plötzlich kein Interesse am Baby zu haben - solche Gefühle können Mütter haben, nur ist es tabu, darüber zu sprechen. Was raten Sie Eltern in einer solch schwierigen Situation?
Anne Schlunegger: Unsere Studie des VAP mit über 80 interviewten Müttern nach der Geburt (2009 - 2010), zeigt, dass ¾ der Mütter in den ersten 3 Monaten nach einer Geburt erschöpft sind. Dieses Phänomen ist also verbreitet und normal, nur ist dies kaum bekannt. Zwischen 10 bis 20% aller Mütter erkranken zudem nach einer Geburt für einige Wochen bis Monate an einer postpartalen psychischen Störung. Ich rate allen, die Schwierigkeiten ernst zu nehmen, und sich deswegen nicht zu schämen, denn solche Probleme sind relativ häufig. Zuwarten bringt aber nichts, sondern sofortiges Handeln ist gefragt: Reden Sie mit einer Vertrauensperson über Ihre Gefühle, Enttäuschungen, Ängste…Meiden Sie unbedachte Personen, die Ihre Stimmung verschlechtern. Lassen Sie sich bei der Betreuung des Babys und im Haushalt helfen. Planen Sie ohne schlechtes Gewissen Zeitinseln ein, um auszuspannen, nachzuschlafen oder eigene Interessen und Hobbys zu pflegen. Die von uns interviewten Mütter nennen ihren Partner an erster Stelle als ihre wichtigste Kraftquelle: Pflegen Sie Ihre Partnerschaft! Weiter sind Bewegung draussen und ausgewogene Ernährung wichtig für Gesundheit und Psyche: Sie sind Energiespender und stressabbauend.
swissmom: Kann eine Mutter mit schweren Depressionen eine Bindung zum Kind aufbauen? Können Sie als Psychologin dazu Hilfe bieten?
Anne Schlunegger: Bei einer schweren Depression ist der Aufbau einer Bindung zum Kind belastet. Ängste, grosse Verunsicherung, Antriebslosigkeit und körperliche Beschwerden erschweren bis verunmöglichen die Pflege eines Babys rund um die Uhr. Psychotherapeutische Unterstützung ist notwendig, um wieder Zugang zu den verschütteten intuitiven elterlichen Fähigkeiten zu finden. Eine psychologische Fachperson bemüht sich um eine einfühlsame und haltgebende Beziehung zur Klientin, vermittelt ihr Wissen über Säuglings- und Kinderentwicklung und gibt konkrete Unterstützung im Umgang mit und in der Beziehung zum Baby. Je nach Problemlage hilft psychologische Therapie dabei, einen guten Umgang mit der Mutterrolle, mit der eigenen belasteten Kindheit oder mit Beziehungsschwierigkeiten zu finden. Durch diese Arbeit wird es einer betroffenen Mutter möglich, sich wieder für Ihr Kind zu interessieren und Kraft zu entwickeln, sich den kindlichen Bedürfnissen zu widmen. Das Baby fühlt sich dadurch angenommen und geborgen. Dies stellt eine wichtige Grundlage dar für eine sichere Bindung.
swissmom: Welche Umstände können eine länger dauernde Depression nach einer Geburt auslösen?
Anne Schlunegger: Das komplexe Zusammenspiel folgender Faktoren kann eine länger dauernde Depression auslösen:
Enorme Schwankungen im Hormonhaushalt treten von der Zeugung bis zum erneuten Einsetzen des Menstruationszyklus nach der Entbindung auf. Diese Schwankungen können sich auf die Stimmung niederschlagen.
Seelische Verletzlichkeit, im Sinne einer früheren psychischen Erkrankung und familiär gehäuft auftretende Depressionen werden als mögliche Risikofaktoren gesehen.
Auf der psychologischen Ebene können Stress und Angst in der Schwangerschaft, sowie schwere, als traumatisch erlebte Geburten, und Sorgen um ein krankes Kind oder ein Schreibaby weitere Risikofaktoren darstellen, welche das Auslösen einer postpartalen/ postnatalen Depression begünstigen.
Auf der psychosozialen Ebene treten folgende mögliche Auslöser auf: mangelnde Entlastung durch das soziale Umfeld, wenig unterstützungsfähiger Partner, schwierige Paarbeziehung, finanzielle Not, Isolation und belastende Lebensereignisse.
swissmom: Können entspannende Techniken, z.B. bei Erschöpfung und Schlafmangel oder Beratungsgespräche dazu beitragen, dass Mütter besser aus der Erschöpfung in eine freudvollere Stimmung finden und Paaren damit geholfen wird?
Anne Schlunegger: Autogenes Training oder die progressive Muskelentspannung nach Jakobson sind eine wirksame Hilfe zur Selbsthilfe: Durch die Entspannung auf der körperlichen und mentalen Ebene können Ängste, innere Unruhe, Stress, Schlafschwierigkeiten und vieles mehr gelindert oder beseitigt werden. Die neu erworbene Gelassenheit macht zuversichtlich. Psychologische/psychotherapeutische Gespräche helfen der betroffenen Mutter, mehr Selbstvertrauen zu gewinnen, hohe Erwartungen an sich abzubauen (z.B. Mutter- oder Partnerinnenrolle), Ängste oder traumatische Belastungen (schwere Geburt) zu überwinden. Wichtig ist ebenfalls, Projektionen zurückzunehmen (mein Baby fordert von mir zu viel, genau wie eine bestimmte Person aus meiner Vergangenheit!), eine günstige Stressbewältigung gemeinsam zu erarbeiten oder die Partnerschaft und Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern. Fachhilfe ermöglicht mehr Lebensqualität. Empfehlenswert sind erfahrene Frauen, die sogenannten Doulas, die jungen Müttern im Alltag helfen. Sie geben ihnen Anleitung, emotionale Sicherheit und Rückhalt, damit die Frauen in Geborgenheit in die Mutter-Rolle hineinwachsen.
swissmom: Was raten Sie Paaren bzw. Müttern, wenn diese der Meinung sind, sich in einer perinatalen Depression (Depression kurz vor und vor allem nach der Geburt) zu befinden?
Anne Schlunegger: Wenn eine Frau in der Schwangerschaft eine gedrückte Stimmung, Ängste oder Belastungen erlebt, ist es schon zu diesem Zeitpunkt wichtig, eine psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen. Von grosser Bedeutung ist es, vor der Geburt schon Entlastung im Alltag (putzen, kochen, Hütedienst..) zu organisieren und Hilfe von Fachkräften einzuplanen (Spitex, Hebamme, regelmässige Mütterberatung). Für die in Not geratene Mutter ist es von grösster Bedeutung und eine wesentliche Hilfe, wenn sich ihr Partner über PND (postnatale Depression) informiert und sich in viel Geduld übt. Wenn möglich soll er Stress von seiner Partnerin fernhalten, mit ihr im Gespräch bleiben und sie daran erinnern, dass jede Depression vorübergeht. Natürlich ist es auch für seine Gesundheit wesentlich, für sich selber Kraftquellen zu nutzen! Hat eine depressive Mutter keinen Partner, kann eine Freundin oder die eigene Mutter diese Unterstützung geben. Dauert der Leidensdruck länger als 4 Wochen an, so sollte die junge Mutter durch ihren Hausarzt eine körperliche Untersuchung durchführen lassen (z.B. Eisen- und Schildrüsenwerte bestimmen lassen). Gegebenenfalls ordnet er nach einem ausführlichen Gespräch eine Psychotherapie an. Je früher die depressiven Symptome wahr- und ernst genommen werden, und je früher psychologische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird, umso besser kann eine Abwärtsspirale aufgefangen werden. Manchmal können schon wenige Fachgespräche genügen, um eine Wende herbeizuführen und den Heilungsprozess in Gang zu setzen.