Was die Kita der Zukunft braucht
Interview mit Maria Luisa Nüesch
swissmom: Im Zusammenhang mit dem Neubau, den Ihr Verein plant, haben Sie sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Kita der Zukunft aussehen soll. In einem Artikel, den Sie zum Thema verfasst haben, schreiben Sie, dass für Babys bis zum Alter von 18 Monaten ein Betreuungsschlüssel von 1:1,5 gelten sollte. Warum?
Maria Luisa Nüesch: Die Meinung, die Kleinsten brauchten weniger Betreuung, weil sie noch nicht verstehen, ist leider noch weit verbreitet. Teilweise werden innerhalb der Krippe diejenigen, die mit den Kleinsten arbeiten, sogar fast belächelt. Hier muss es zu einem Paradigmenwechsel kommen, indem man erkennt, dass das erste Lebensjahr das Grundlegendste und somit das Allerwichtigste ist. Darauf baut alles auf, was später kommt und darum ist auch die Bindung sehr wichtig. Wenn man, wie wir in unserer Kita, die kooperative Pflege nach Pikler praktiziert, dann braucht das viel Zeit. Dann muss man wirklich da sein für das Kind, damit es auftanken kann mit Liebe, Zuwendung und Präsenz der Pflegenden. Aus der Bindungsforschung weiss man heute, wie wichtig dies ist und trotzdem hinkt man in der Praxis trotz besserem Wissen hinterher. Es ist leider auch eine Kostenfrage.
swissmom: Was versteht man denn unter dem Begriff "kooperative Pflege"?
Maria Luisa Nüesch: Das Kind wird ernst genommen, so, wie es im Moment ist. Es wird nicht wie eine Puppe behandelt, indem man es einfach anzieht oder wickelt. Man überfällt das Kind nicht mit den eigenen Absichten, sondern kündigt an: "Jetzt hole ich dich zum Wickeln. Bist du bereit?" Man ist im Dialog, sagt dem Kind, was jetzt kommt und begleitet die Pflegehandlung auch sprachlich. Nicht einfach, indem man auf das Kind einredet, sondern, indem man abwartet, bis eine Antwort kommt. Wir haben auch keine feste Essenszeit, während der alle an einem Tisch sitzen. Es kommen immer wieder zwei Kinder zum Essen. Die Kinder werden auf dem Schoss gefüttert, bis sie gross genug sind, um selber aufs Pikler-Bänklein zu sitzen. Die Mahlzeiten laufen so sehr ruhig und friedlich ab, es bedeutet aber auch, dass eine Betreuerin sehr lange mit dem Füttern beschäftigt ist. Auch das Wickeln braucht sehr viel Zeit. Das Kind wird dabei sozusagen "auf allen Ebenen" gesättigt, es fühlt sich wahrgenommen und geliebt.
swissmom: Auf die Antwort warten, ob es bereit ist - was heisst das bei einem Kind, das sich noch nicht verbal ausdrückt?
Maria Luisa Nüesch: Man merkt einfach, ob ein Kind bereit ist oder nicht, beispielsweise an seinem Blick oder daran, dass es beim Essen den Kopf abwendet. Das ist schon bei ganz kleinen Kindern so. Das fängt ja schon nach der Geburt an, mit dem tiefen ersten Blickkontakt. Das Baby ist vollkommen auf Kontakt und Kommunikation hin ausgerichtet.
Maria Luisa Nüesch interessierte sich bereits als junge Kindergärtnerin für das freie Spiel, die Elternarbeit und die Wirkung der Medien. Während fünf Jahren liess sie sich in England zur Eurythmistin ausbilden. In den Wiegestuben des Vereins "Spielraum-Lebensraum" wird ihre Vision von Räumen der Geborgenheit, in denen kleine Kinder und ihre Eltern zur Ruhe und zu sich selbst finden, umgesetzt. Spielgruppe, Halbtagskrippe und Sandbank ergänzen das Angebot. Maria Luisa Nüesch ist Autorin der Bücher "Spiel aus der Tiefe" und "Begleitungskunst in Eltern-Kind-Gruppen".
swissmom: Die kooperative Pflege sehen Sie auch als eine wichtige Grundlage für das freie Spiel. Können Sie den Zusammenhang kurz erläutern?
Maria Luisa Nüesch: Bindung und Pflege sind die Grundlagen für das freie Spiel und die Bewegungsentwicklung. Wenn ein Kind nicht "auf allen Ebenen" genährt ist, also auch auf der seelischen, ist es weinerlich und bedürftig. Wenn es aber rundum genährt ist, kann es die längste Zeit friedlich spielen. Und wenn die Kinder so gesättigt sind, dann sind sie eben fähig, nachher auch für sich zu spielen. Sie brauchen dann nicht immer jemanden, der ihnen alles zeigt und sich mit ihnen beschäftigt.
swissmom: Würde eine 1:1,5-Betreuung für Babys bedeuten, dass man nicht mit den für Kitas üblichen Gruppenmodellen arbeitet?
Maria Luisa Nüesch: Ja, die Babys werden nicht in eine grössere Gruppe integriert. Wir haben es in unserer Kita so erlebt, dass sich die Babys viel zu stark gestört fühlen durch die grösseren Kinder. Da läuft oft viel zu viel und sie können nur noch zuschauen, finden nicht mehr zu sich selber und können nicht mehr ihr eigenes Spiel spielen. Wir haben jetzt ein angrenzendes Zimmer für die Kleinen eingerichtet. Da sind die Kleinen jetzt wirklich für sich. Dies ist auch für die Grösseren eine Entlastung. Wir haben schon vorhin mit Abtrennungen gearbeitet, aber so ist es besser. Die Kinder sind jetzt viel ruhiger und spielen ausdauernder. Auch für die Mütter ist es etwas anderes, wenn die Kinder nicht gestresst nach Hause kommen.
swissmom: Die Eltern bringen ihr Kind bestimmt auch anders in die Kita, wenn sie wissen, dass es ihm gut geht?
Maria Luisa Nüesch: Ja. Aber auch in unserer Halbtageskrippe kann es vorkommen, dass Kinder ab 11 Uhr nach der Mutter rufen und jetzt einfach wieder das Mami brauchen. In diesem Moment braucht es dann wirklich eine Betreuungsperson, die sich um das Kind kümmert, bis es abgeholt wird. Diese letzte halbe Stunde vor dem Abholen ist zuweilen sehr anspruchsvoll für die Betreuerinnen. Am Abend ist das natürlich noch verstärkt der Fall, das fällt mir oft auf, wenn ich bei Ganztages-Krippen vorbeispaziere. Wenn die Kinder am Ende des Tages im Garten sind, laufen sie eigentlich eher planlos herum. Da ist kein Spiel mehr. Ich erlebe auch auch sonst auf vielen Spielplätzen kein vertieftes Spiel mehr, das ist eine traurige Zeiterscheinung. Die Kinder werden unterhalten, sie werden angeschubst auf der Schaukel, sie werden hochgehoben zu Klettergeräten und die Erzieherinnen sind zum Helfen da. Dies gibt es bei uns nicht. Wir haben nur Spielsachen, mit denen die Kinder ganz von sich aus spielen können. Wir haben zurzeit nur einen kleinen Spielplatz mit Sand, Kies, einem Abhang, einem Kletterbaum, einem Häuschen und einem Sand-Wasser-Tisch. Aber die Kinder spielen so hingebungsvoll und konzentriert, so etwas sehe ich selten auf anderen Spielplätzen und das macht mich traurig.
swissmom: Liegt dies denn vor allem an der Gestaltung des Spielplatzes?
Maria Luisa Nüesch: Es liegt auch an der Ausbildung der Betreuerinnen. Sie werden in der der Ausbildung darauf getrimmt, das Kind zu fördern und darauf zu schauen, dass es schaukeln lernt, dass es klettern lernt, etc. Die Betreuerin darf nicht einfach präsent sein, sie muss etwas mit dem Kind machen, sonst macht sie ihre Arbeit nicht gut. Das liegt stark an der Ausbildung.
swissmom: Steckt dahinter der Gedanke, dass es verlorene Zeit ist, das Kind einfach machen zu lassen?
Maria Luisa Nüesch: Genau. Aber das Beobachten an sich ist im Grunde sehr anspruchsvoll. Man muss nämlich sehen: Mit was beschäftigt sich das Kind? Und wie? Und dann gilt es, die Umgebung so vorzubereiten, dass das Kind weiterfahren kann mit seinem Prozess und dass es die Dinge wiederfindet, die es braucht. Die Betreuerin muss also sehr wach und vorausschauend sein in der Vorbereitung. Es gilt auch zu merken, wann das Kind fertig ist mit einer Spielphase. Um dies zu erkennen, ist sehr viel Beobachtung und Einfühlung nötig.
swissmom: Dann zeigen die Kinder selber, was sie brauchen?
Maria Luisa Nüesch: Ja, die Betreuerinnen sind hier dauernd am Lernen. Sie stellen immer wieder um, wenn sie merken, dass etwas für die Kinder nicht ideal ist. Es ist alles in Bewegung und trotzdem ruhig und sicher. Die Gruppenzusammensetzung wechselt ja meist von Tag zu Tag in Kitas. Konstante Gruppen wären vorteilhafter. Und dann gibt es auch immer Kinder, die etwas völlig Neues mit sich reinbringen, so dass man vielleicht die Dinge anders gestalten muss, um gerade diesem Kind gerecht zu werden. Es handelt sich hier wirklich um eine lebensvolle Kunst.
swissmom: Wenn dem freien Spiel ein hoher Stellenwert beigemessen wird, spielen dann die Kinder überhaupt noch miteinander, oder bleibt jedes für sich?
Maria Luisa Nüesch: Die ganz Kleinen spielen ja grundsätzlich alleine. Wenn die Kinder grösser sind, bilden sich dann Grüppchen. Es ist oft so, dass Kinder, die sich ähnlich sind, miteinander Freundschaften schliessen und dann eher zu zweit spielen als in Gruppen. In den neuen Räumlichkeiten, die wir derzeit planen, soll es deshalb viele Möglichkeiten für Zweierspiele geben. So, dass die Kinder auch beim Zweierspiel ungestört sind. Die Kinder haben einander gern, aber sie brauchen auch sehr viel Schutz voreinander.
swissmom: Hat die Müdigkeit, die viele Kinder am Ende eines Kirtages empfinden, auch mit den sozialen Spannungen zu tun, die sie erleben?
Maria Luisa Nüesch: Der gemessene Stress-Pegel ist bei vielen Kindern zu hoch, der Lärmpegel ist zu hoch, die Sinneseindrücke sind zu stark, die sozialen Spannungsfelder ebenfalls. Das bewirkt eine Überbeanspruchung, die sehr müde macht und ungesund ist.
swissmom: Wie kann man dem entgegenwirken?
Maria Luisa Nüesch: Mit einem hohen Betreuungsschlüssel, mit einer geeigneten Architektur und einer Inneneinrichtung, die stressreduzierend wirken. Mit einer Atmosphäre von Geborgenheit, Sicherheit und Schönheit. Mit der bestmöglichen Qualität in der Betreuung. Für die Kleinsten ist eine Ganztagsbetreuung in den meisten Fällen eine Überforderung.
swissmom: Dann müsste man in der Ausbildung also das Augenmerk auch auf die ganz praktischen Aspekte wie zum Beispiel die Einrichtung richten?
Maria Luisa Nüesch: Genau und ich habe das Gefühl, dass das zu kurz kommt. Wir gehen immer wieder durch die Räume und schauen uns einen Ausschnitt genau an: Wie sieht das aus? Wie sind die Farben? Wie wirkt das? Unruhig? Ruhig? Was könnte man ändern? Es ist wichtig, dass die Betreuerinnen den Blick für solche Dinge schulen.
swissmom: Oft müssen Kindertagesstätten ja auch einfach mit den Räumlichkeiten arbeiten, die zur Verfügung stehen. Was kann man tun, wenn man merkt, dass die Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Kinder nicht entsprechen?
Maria Luisa Nüesch: Es braucht den Willen und die Überzeugung zum Wandel, sonst geht es nicht. Es ist die Krippenleiterin, die diesen Zug reinbringen kann, der dann ja ungeheuer spannend ist. Es geht darum, das eigene Künstlerische zu wecken und den Schönheitssinn. Holz zum Beispiel hat eine andere Wirkung als die schrillen Farben von Plasitkgegenständen. Und auch haptisch gibt Plastik nichts her. Wenn man mit offenen Augen durch ein Brockenhaus geht, kann man für wenig Geld wunderbare Sachen finden. Wenn ich mir Bilder von Krippen anschaue, dann stehen mir manchmal die Haare zu Berge, weil da keine Geborgenheit ist, keine Wärmeausstrahlung. Aber am Abend eines anstrengenden Arbeitstages fehlt halt oft die Kraft, sich noch um die Einrichtung zu kümmern, noch einen Knopf anzunähen oder ein kaputtes Spielzeug zu flicken. Es braucht den Willen und viel Liebe, etwas zu ändern.
swissmom: Sie schreiben in Ihrem Artikel, dass in der Ausbildung die Selbstentwicklung der Betreuerinnen im Zentrum stehen sollte. Wie ist das zu verstehen?
Maria Luisa Nüesch: Es geht um Entfaltung, nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen. Wichtig ist beispielsweise, zu lernen, sich einzufühlen, zu erkennen, wie sich das Kind fühlt. In der Wiegestube machen wir mit den Müttern zum Beispiel eine Übung: Die eine spielt mit einer Babuschka und die andere sagt z. B. belehrend: "Nimm doch mal dieses Teil, damit ginge es besser." Da kommt eigentlich immer die Rückmeldung: "Das Spiel ist mir sofort verleidet wegen deiner Belehrung!" So etwas selber zu erleben, das ist wichtig. Nur Worte allein bringen wenig oder nichts, es muss erlebt werden, wie es sich anfühlt, dauernd belehrt und angeleitet zu werden. Wir tragen das fast durchwegs verheerend stark in uns drin, weil wir leider auch so geprägt sind. Zur Selbstentwicklung gehört auch, dass in jedem Menschen ein riesiges Potential steckt. Es geht darum, dass die Erzieherin zu fragen wagt: "Wer bin ich? Was spricht in mir?" Es gibt unendliche Möglichkeiten zur Entfaltung. Und es geht ja auch darum, dass die Menschen, die Kinder betreuen, glücklich sind. Dass sie das finden, was in ihnen lebt und wo sie gerne schöpferisch tätig werden möchten. Das Künstlerische ist mir darum ganz wichtig in der Ausbildung.
swissmom: Also genau die Dinge, die heute in der Ausbildung oft wenig Platz haben?
Maria Luisa Nüesch: Ja, und dazu gehört leider auch das Spiel. In der Ausbildung der Kindergärtnerinnen, die ja heute zu "Lehrpersonen" mutiert sind, ist das Spiel nicht mehr Teil des Lehrplans und das Spiel ist doch eigentlich das Leben des Kindes! Das ist eine Tragödie! Es kommt jetzt zwar wieder eine Gegenströmung, aber sogar dort muss man aufpassen, dass das Spiel nicht für Förderzwecke instrumentalisiert wird. Das Freispiel ist wieder im Gespräch, nur gibt es ganz sonderbare Vorstellungen davon, was Freispiel sein soll.
swissmom: Welche Vorstellungen zum Beispiel?
Maria Luisa Nüesch: Im Kindergarten gilt auch das Spiel am Computer als Freispiel, nur weil die Kinder es frei wählen können. Oder auch sehr viele andere angeleitete, von Erwachsenen ausgedachte Spiele, welche die Kinder halt auch frei wählen können, sie sind meist in Schachteln verpackt! Das wirkliche, selbst erfundene Freispiel aber, vor dem hat man oft Angst, denn das ist quellend, das ist lebendig, das gibt Unordnung, das ist das Leben. Wir sind hier in dem Bereich, von dem Friedrich Schiller sagte: "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt!" Den Weg finden zu können zu diesem lebendigen Spiel, das wäre so ein Ausbildungsziel, das mir wichtig ist. Wo ist das Spiel in einem selber und wagt man es überhaupt zu spielen?
swissmom: Ist es nicht oft auch so, dass man sich vor diesem Lebendigen fürchtet, weil es Unordnung gibt?
Maria Luisa Nüesch: Ja, das ist ganz extrem. Wir haben bei uns in der Kita auch ein starkes Ordnungsprinzip. Nicht gerade so ausgeprägt, wie in der Montessori-Pädagogik, aber doch stark, weil wir wissen, dass es dem Kind Sicherheit gibt, wenn es weiss, wo es die Sachen findet. Aber beim Spiel gibt es immer Chaos. Wir machen dann einfach zwischendurch jeweils wieder Ordnung. Es kommt auch oft vor, dass Mütter, die hier Dinge herumliegen sehen, sagen: "Das sieht ja gar nicht so schlimm aus." Wenn die Sachen schön sind, mit denen gespielt wird, ist auch die Unordnung anders. Aber wenn scheussliche Spielsachen herumliegen, dann setzt es einem schon zu. Jedes Ding hat halt eine Ausstrahlung, die so oder so wirkt.
swissmom: Sind Kinder kooperativer beim Aufräumen, wenn jedes Ding seinen Platz hat?
Maria Luisa Nüesch: Ja, wir reden hier aber auch nicht von "aufräumen", denn das ist so negativ behaftet. Wir sagen vielleicht: "Jetzt gehen die Sachen wieder an ihren Platz zurück." Dieses Gefühl, wenn alles wieder an seinem Platz ist, das kann richtig befriedigend sein. Bei grösseren Kindern ist es natürlich wieder anders, aber bei Kleineren, mit denen man das ja immer zusammen machen muss, weil sie es noch nicht alleine können, fängt dann auch die Fantasie an, mitzuspielen. Da sagt man zum Beispiel: "Jetzt kommt der Bauer und bringt die Tiere in den Stall und mit dem Traktor holt er die Klötze."
swissmom: Gehen Kinder, die in der Krippe frei spielen durften, anders nach Hause?
Maria Luisa Nüesch: Die sind ganz erfüllt und haben im besten Fall rote Wangen! Wenn Kinder dauernd in einer Art Zwangsjacke drin sind - dort nicht rennen, das nicht anfassen, jenes nicht tun -, gibt es so viel Anspannung. Man hört dann oft: "Die Kinder müssen das halt mal lernen." So werden sie auf der einen Seite gebremst auf der Bewegungsebene und auf der anderen Seite angetrieben auf der Kopfebene. Es gibt hier einen Paradigmenwechsel in der Kleinkindererziehung. Dazu braucht es dringend Modellorte, wo dieser neue, vertrauensvolle Umgang mit Kindern gelebt wird.
swissmom: Wenn ein Kind sich auffällig verhält, versucht man oft, am Verhalten des Kindes etwas zu ändern, die Struktur aber wird nicht in Frage gestellt. Versuchen Sie mit Ihrer Arbeit, das Gegenteil zu tun, also die Strukturen zu ändern, damit es den Kindern gut geht?
Maria Luisa Nüesch: Genau. Und es geht, wie bereits erwähnt, stark um die Erwachsenem, um die Art und Weise, wie sie sich verhalten. Zum Beispiel darum, wie ihre Stimme klingt, ob man brüllt oder Befehle erteilt mit einer Stimme, die klingt wie ein Maschinengewehr. Das macht sehr viel aus, denn die Kinder gehen dann auch entsprechend miteinander um. Stimmschulung ist darum meiner Meinung nach auch wichtig. C'est le ton qui fait la musique.
swissmom: Dann sollte Stimmschulung Teil der Ausbildung sein?
Maria Luisa Nüesch: Ja, das wäre hilfreich! Und auch Konfliktlösungsmodelle, beispielsweise aus der Pikler-Pädagogik oder von Jesper Juul. Dies hilft, dass die Betreuerinnen viel sicherer werden im Umgang mit Konflikten und sie müssen sich nicht selber in eine Sache hineinsteigern. Wenn man lernt, dass Konflikte ganz normal sind und dass es keine Opfer oder Täter gibt, dann macht das schon sehr viel aus. Wenn man Konflikte gänzlich vermeiden möchte, müsste man die Kinder ja anbinden. Und das sind sie heute ja sonst schon genug, im Auto, im Veloanhänger, überall sind sie angebunden. Hier ist es ja notwendig, damit das Kind unterwegs sicher ist. Maxi Cosi verwenden wir allerdings nicht, weil Babys die volle Bewegungsfreiheit am Boden brauchen.
swissmom: Sie plädieren also dafür, dass die Kinder in den Zeiten zwischen diesem Angebundensein umso freier sein dürfen?
Maria Luisa Nüesch: Ja, man ist diesbezüglich extrem ängstlich. Wenn wir hier in der Kita oder in der Wiegestube erleben, wie die Kinder sich so harmonisch und schön bewegen, wie sie eine optimale Bewegungsentwicklung auf dem Boden durchlaufen, wie sie klettern, wie sie lernen, zu fallen, dann zeigt sich deutlich, dass sie unglaubliche Fähigkeiten haben, eine hohe Selbstentwicklungskraft. Die Eltern lernen angesichts dieser Tatsache, ihnen mehr zu vertrauen. Ich habe letzthin einen kleinen Film gesehen von einem Kleinkind, ca. 15 Monat alt, das vom Bett auf den Wickeltisch steigt und dann vom Wickeltisch herab - das ist fast unglaublich. Das Kind hat sich nicht überfordert, es hat einkalkuliert, ausprobiert, ist wieder zurückgegangen, hat sich kurz erholt und dann noch einmal probiert. Wenn so etwas möglich ist, ohne dass die Erwachsenen gleich einschreiten, ist das sehr wertvoll.
swissmom: Erfordert dies vom Betreuungspersonal nicht auch mehr Zurückhaltung?
Maria Luisa Nüesch: Ja, es braucht eine enorme Zurückhaltung. Auch das gehört zur Ausbildung.
swissmom: Sie begleiten Kinder schon sehr lange in dieser Art des freien Spiels. Passieren dann auch grössere Missgeschicke, wenn Kinder sich so entwickeln dürfen?
Maria Luisa Nüesch: Es gibt schon mal einen Sturz oder eine Beule. Das gehört bei einem Zweijährigen einfach zum Leben. Die Erwachsenen müssen auch lernen, so zu kommunizieren, dass die Kinder auf sie hören. Wenn Erwachsene den ganzen Tag auf Kinder einreden, dann horchen sie irgendwann gar nicht mehr hin. Das ist viel gefährlicher. Es ist besser, erst einzugreifen, wenn es gefährlich wird und dann dem Kind zu sagen: "Ich helfe dir, um von hier wieder runter zu kommen." Es ist wichtig, nicht abzuklemmen und die Fähigkeit des Kindes in Frage zu stellen. Also nur schützen, wenn es zu weit geht. Eltern springen in solchen Momenten oft zu schnell ein. Aber wenn sie das Kind machen lassen, lernen sie auch, was es alles kann. Das muss man geradezu trainieren.
swissmom: Ihr Verein plant einen Neubau, der den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Worauf achten Sie dabei besonders?
Maria Luisa Nüesch: Wie sollte ein Haus für kleine Kinder aussehen? Es sollte ein Höchstmass an Geborgenheit ausstrahlen, das Gefühl: "Oh, da möchte ich gerne hingehen!" Wir versuchen, bis ins kleinste Detail diesen Willkommenscharakter zu verwirklichen. Das Haus ist ein Bild dafür, wie das Kind in seinen eigenen Körper einzieht, ihn gerne bewohnt. Immer mehr Kinder haben Mühe mit diesem fundamentalen, lebenswichtigen Prozess und auch die Eltern sind häufig nicht mehr "bei sich", d.h, "in sich". Da kann Architektur heilend wirken. Die Raumabfolge wurde so angelegt, dass man zur Ruhe kommen und sich sicher fühlen darf, das begünstig echtes, vertieftes Spielen. Das "Storchennest" wird grosse, bergende Dächer haben, dicke Strohmauern (ökologisch bauen ist für die Kinder und ihre Zukunft ein Muss) sowie Gebäude, die einen Paradiesgarten umschliessen. Es ist ein Gegenmodell zu seelenlosen Gebäuden für Kinder, die immer häufiger anzutreffen sind. Die Architektur ist wirklich der "dritte Erzieher". Wir suchen übrigens weitere Sponsoren!
swissmom: In Ihrem Text sprechen Sie die Folgekosten an, die für die Gesellschaft entstehen, wenn in der Betreuung falsche Prioritäten gesetzt werden. Sind wir in dieser Hinsicht zu kurzsichtig?
Maria Luisa Nüesch: Es müsste einer Gemeinde ein Anliegen sein, dass möglichst viele Kinder in die Schule kommen, die einen guten Boden haben und weniger Therapien brauchen. Das müsste doch eigentlich bei allen "klick" machen. Leider sind die alternativen Konzepte viel zu wenig bekannt. Ich verstehe ganz einfach nicht, warum die Gesellschaft das enorme Potential der frühen Kindheit nicht erkennt und entsprechend handelt.
swissmom: Könne man zusammenfassend sagen, dass es eine Kinderbetreuung braucht, bei der das Kind mit seinen Bedürfnissen im Zentrum steht?
Maria Luisa Nüesch: Ja, und darum ist der Beruf anspruchsvoll und müsste auch entsprechend honoriert werden. Man muss bereit sein, eine hohe Qualität zu wollen. Und darum wäre es mir ein grosses Anliegen, dass es vermehrt Ausbildungen geben würde, bei denen man lernt, auf diese Weise zu arbeiten. Das ist für mich die Zukunft und die Grundlage einer friedlicheren Welt. Es hat mit dem freien Spiel zu tun, es hat mit der Entfaltung zu tun, es hat mit unserer ganzen Zukunft zu tun. Wie wir mit der Erde umgehen, mit dem Wasser, mit uns selber und mit den Kindern, dem Lebendigsten und Wertvollsten, was es gibt.