Einzelkinder – verwöhnt und risikoscheu?
Aus der Forschung
Mehr als 30 Jahre nach Einführung der chinesischen Ein-Kind-Politik bekommt das Riesenreich die Auswirkungen dieser Massnahme zu spüren: In Chinas Gesellschaft gibt es überwiegend Einzelkinder mit ausgesprochen schlechtem Ruf. Sie tragen den Spitznamen „Kleine Kaiser“, denn in vielen Fällen stehen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit einer ganzen Familie. Die teils stark verwöhnten Einzelkinder sollen oft egozentrisch und unkooperativ sein. Den Hintergrund dieser Vorurteile scheinen die Untersuchungen von Lisa Cameron und ihren Kollegen nun statistisch zu belegen.
Die australischen Forscher führten ihre Untersuchungen mit rund 400 Einwohnern Pekings durch, die entweder vor Einführung der Ein-Kind-Politik, zwischen 1975 und 1978 geboren worden waren, oder danach, zwischen 1980 und 1983. Um Charaktereigenschaften der Probanden zu erfassen, verwendeten sie eine Reihe experimenteller ökonomischer Gruppenspiele. Das Verhalten der Teilnehmer bei diesen Simulationen, die auf dem Austausch oder Investieren von Geld basieren, kann offenbaren, wie vertrauensvoll, risikofreudig oder wettbewerbsbereit sie sind. Zusätzlich führten die Forscher schriftliche Befragungen der Probanden durch, die persönliche Einstellungen darlegen sollten.
Als die Forscher die Ergebnisse beider Gruppen verglichen, zeigten sich auffallende Unterschiede: Im Durchschnitt waren die Kleinen Kaiser weniger risikobereit, scheuten eher den Wettbewerb und waren misstrauischer. Außerdem attestieren die Forscher ihnen gesteigerten Pessimismus, Nervosität und Empfindlichkeit im Vergleich zu den Studienteilnehmern, die mit Geschwistern aufgewachsen waren.
Die Auswertung der unterschiedlichen Berufe der Teilnehmer zeigte, dass Menschen, die 1980 oder später geboren worden waren, viel seltener in riskanten Berufen arbeiten, wie als Selbständige, Freiberufler oder im Finanzsektor. Sie denken weniger unternehmerisch, was wiederum dann negative Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft haben könnte.
Lisa Cameron hat nicht, wie bisher üblich, Einzelkinder mit Geschwisterkindern verglichen: "Unsere Studie unterscheidet sich von Einzelkinder-Studien in anderen Gesellschaften, in denen die Eltern selbst entscheiden können, wie viele Kinder sie haben möchten. Denn Eltern, die sich für ein Kind entscheiden, haben bestimmte Eigenschaften und die wirken sich auch auf die Erziehung des Kindes aus. In dem Fall erfährt man also nicht nur, welchen Effekt es hat, als Einzelkind aufzuwachsen, sondern auch wie sich der familiäre Hintergrund eines typischen Einzelkindes auswirkt.“
Zumindest in westlichen Ländern haben die wenigen Studien zu Einzelkindern die Vorurteile bisher nicht gestützt. Die erste große Erhebung dazu in Deutschland, geleitet vom Psychotherapeuten Thomas von Kürthy, kam 1989 vielmehr zu dem Ergebnis, dass Kinder ohne Geschwister zu sozialeren, optimistischeren und leistungsbewussteren Menschen werden als Geschwisterkinder. Das mag auch daran liegen, dass Eltern von Einzelkindern Schulleistungen, Selbstbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein für wichtiger halten als Pflichtbewusstsein, Selbstständigkeit und Manieren, wie eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts ergeben hat.
Aus der Forschung: Lisa Cameron et al.: Science Vol. 339 Nr. 6122, S. 953-957