Sexualerziehung - mehr als nur Wissensvermittlung
Interview mit Sarah Reist
swissmom: Einem Kind erklären, woher die Babys kommen, ein etwas peinliches Aufklärungsgespräch zu Beginn der Pubertät und der nicht minder peinliche Sexualkundeunterricht in der Schule – das ist es, was viele Menschen mit dem Begriff „Sexualerziehung“ in Verbindung bringen. Ist damit das Wichtigste abgedeckt, oder geht es um mehr?
Sarah Reist: Das ist das, woran sich viele erinnern. Wissensvermittlung ist jedoch nur ein Teil der Sexualerziehung. Es geht um viel mehr! Weitere Aspekte sind beispielsweise, die Kinder in ihrer sinnlichen Entwicklung zu begleiten, ihre Selbstbestimmung zu fördern und ein positives Körpergefühl zu stärken. Die sexuelle Entwicklung ist Bestandteil einer gesunden Entwicklung. In der Sexualerziehung geht es darum, Orientierung zu geben, Perspektiven aufzuzeigen, zu lernen, Schamgefühle und Grenzen wahrzunehmen, die Kinder in ihrer Identität zu fördern, zu stärken, zu begleiten und zu Reflexion anzuregen.
swissmom: Warum ist es wichtig, dass sich Eltern von kleinen Kindern Gedanken zur Sexualerziehung machen?
Sarah Reist: Kinder kommen schon früh in Kontakt mit Themen rund um das Thema Sexualität. Sei es in der Familie, in der Kita oder bei Freunden. Es kann sein, dass sie Wörter aufschnappen, welche sie nicht verstehen, mit der besten Freundin Dökterlispiele machen oder in den Medien etwas sehen. Wichtig ist es, Sexualerziehung als ganz selbstverständlich anzusehen und auch Themen rund um Sexualität mit den Kindern zu besprechen, den Kindern zu sagen was erlaubt und was nicht erlaubt ist, Grenzen zu setzen und Fragen zu klären. Die Medien - wie zum Beispiel ein Plakat - kann man auch sehr gut für ein Gespräch mit dem Kind nutzen.
Sarah Reist ist Fachperson für sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung, SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz. Sie ist Fachmitarbeiterin bei Berner Gesundheit. Die Stiftung engagiert sich für eine wirkungsvolle Gesundheitsförderung im Kanton Bern und schult, berät und informiert unter anderem zum Thema sexuelle Gesundheit. Das Angebot richtet sich an Jugendliche, Eltern, Schulen, Heime, Tagesschulen und Kitas. Weitere Infos unter www.bernergesundheit.ch
swissmom: In welchem Alter beginnt die Sexualerziehung?
Sarah Reist: Sexualerziehung beginnt schon im Säuglingsalter. Durch das Gestilltwerden, das Wickeln, Trösten, Getragenwerden, oder auch mal nackt auf dem Wickeltisch zu strampeln lernt das Baby, dass seine Gefühle/Bedürfnisse wichtig sind und der Körper wertvoll ist. Durch diese positiven Erfahrungen lernt das Kind, zu vertrauen und sich zu entspannen. Körperkontakt zu den Eltern ist für Babys sehr wichtig. Sie geniessen sinnliche Erfahrungen, wie zum Beispiel auf dem Bauch von Mutter oder Vater zu liegen oder einfach herumgetragen zu werden. Sobald die Kinder sprechen können, kommen dann auch schon die ersten Fragen: «Wie kommt das Baby in den Bauch? », «Wie kommt es aus dem Bauch?» und «Hast du auch schon Sex gemacht?».
Es ist wichtig, auf die Grenzen der Kinder zu achten. Sei es, wenn sie dies sagen oder ihre Körpersprache es erahnen lässt. Wenn sie keinen Gutenachtkuss möchten, muss das akzeptiert werden. Wenn die Oma mal nicht gedrückt werden will, muss auch Oma das verstehen. Das Kind lernt, Nein zu sagen und merkt, dass die Grenzen akzeptiert werden. Das ist ein sehr gutes Lernfeld, um die Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen.
swissmom: Unsere Gesellschaft geht sehr offen um mit dem Thema Sexualität. Dennoch tun sich viele Erwachsene schwer damit, Kinder auch im Bereich der sexuellen Entwicklung zu begleiten. Warum ist das so?
Sarah Reist: Es ist ein sehr intimes und manchmal auch tabuisiertes Thema. Viele Menschen sind sich nicht gewohnt, ungehemmt darüber zu sprechen. Das muss erst erlernt werden. Es ist jedoch nie zu spät, dies zu lernen. Mit den eigenen Kindern über Themen rund um Sexualität zu sprechen, kann ein tolles Übungsfeld sein. Wenn man merkt, dass eine Frage oder ein Thema unangenehm ist, kann man seinem Kind auch sagen, dass man gerade keine Antwort weiss und sich diese noch überlegen muss. Dabei lernt das Kind schon etwas ganz Wichtiges – nämlich, dass es Grenzen gibt. Man muss nicht immer über alles reden. Wichtig ist es, dass das Kind auf Fragen Antworten erhält. Vielleicht kann man eine andere wichtige Bezugsperson bitten, die Frage zu erklären oder ein passendes Bilderbuch zur Hand nehmen. Bei persönlichen Fragen darf man aber ruhig auch sagen: "Das ist mir zu intim – das möchte ich nicht beantworten."
swissmom: Manchen Eltern fällt es auch schwer, eine passende Benennung für die Geschlechtsorgane zu finden. Worauf sollte man dabei achten?
Sarah Reist: Es gibt sehr viele Begriffe für die Geschlechtsorgane - zum Beispiel "Pfiffli" oder "Schnäbi" für Penis, "Scheideli" oder "Weggli" für die Vulva. Welchen Begriff Sie mit kleinen Kindern wählen, ist Nebensache. Das Wichtigste ist, dass das Kind die weiblichen und männlichen Geschlechtsteile benennen kann. Die Benennung der Geschlechtsteile ist auch wichtig für die Prävention von sexuellem Missbrauch. Wenn das Kind keine Namen dazu hat, ist es auch schwierig, eine Grenzverletzung zu verstehen sowie jemanden zu erklären, wo es berührt wurde. Worte ermöglichen es, sich mitzuteilen.
swissmom: Kleinkinder haben noch kein Schamgefühl. Entwickelt sich dies mit der Zeit von selbst, oder müssen Eltern da „nachhelfen“?
Sarah Reist: Normalerweise entwickelt sich das Schamgefühl von selbst. Babys und Kleinkinder haben noch kein Schamgefühl. Dies entwickelt sich erst schrittweise und individuell. Bei manchen Kindern sind schon früh erste Ansätze bemerkbar, bei andern später. Bei den meisten Kindern entwickelt sich das Schamgefühl bis zum sechsten Lebensjahr. Hat Ihr Kind noch kein Schamgefühl, ist es wichtig, es in bestimmten Situationen zu schützen, beispielsweise, dass es im öffentlichen Raum nicht nackt herumrennt.
swissmom: Wenn Vorschulkinder ihren Körper erforschen und sich selber stimulieren, sind viele Mütter und Väter verunsichert, ob sie dem Entdeckungsdrang ihres Kindes Grenzen setzen sollen. Was empfehlen Sie diesbezüglich?
Sarah Reist: Viele Kinder entdecken, dass das Berühren und Streicheln der Genitalien angenehme und entspannende Gefühle auslösen kann. Das ist ganz normal. Wir empfehlen, dem Kind einen Rückzugsort dafür zu geben. Zeigen Sie dem Kind auf, dass Streicheln schöne Gefühle geben kann und Sie nichts dagegen haben. Gleichzeitig muss das Kind aber lernen, in welchem Rahmen Berührungen angebracht sind. Also, dass es sich dazu ins Zimmer/Bett/Kuschelecke zurückziehen soll, weil es etwas sehr Intimes ist. Die Kinder sollen lernen, dass dies etwas Privates ist und andere dabei nicht zusehen möchten.
swissmom: Sind die Kinder etwas grösser, kommt es manchmal zu sogenannten „Doktorspielen“ unter Gleichaltrigen. Soll man die Kinder bei ihren Erkundungen gewähren lassen, oder gibt es Situationen, in denen Erwachsene einschreiten müssen?
Sarah Reist: Die Doktorspiele gehören zu einer normalen Entwicklung dazu. Die Kinder lernen dabei, welche Berührungen guttun, welche unangenehm sind und können lernen, sich abzugrenzen. Manchmal werden die gegenseitigen "Untersuchungen" dann auch gründlicher. Die meisten Kinder ziehen sich dazu an einen ruhigen Ort zurück. Es kann dann sein, dass sie schauen, wie ein Junge und/oder Mädchen unter der Unterhose aussieht - sie lassen sich treiben von der kindlichen Neugier. Erwachsene denken dabei schnell an Erwachsenensexualität. Diese ist nicht mit kindlicher Sexualität zu vergleichen.
swissmom: Gibt es bestimmte Regeln, die bei solchen "Untersuchungen" eingehalten werden sollten?
Sarah Reist: Die Doktorspiele dürfen ruhig erlaubt werden. Ursula Enders empfiehlt in ihrem Buch "Wir können was, was ihr nicht könnt", dass die folgenden Regeln einzuhalten sind:
Jedes Mädchen/jeder Junge bestimmt selbst, mit wem sie/er Doktor spielen will.
Mädchen und Jungen streicheln und untersuchen einander nur so viel, wie es für sie selber und die anderen Kinder schön ist.
Kein Mädchen/kein Junge tut einem anderen Kind weh.
Niemand steckt einem anderen Kind etwas in den Po, in die Scheide, in den Penis, in die Nase oder ins Ohr.
Grössere Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben bei Körperspielen nichts zu suchen.
Hilfe holen ist kein Petzen.
swissmom: Es wird oft empfohlen, dem Kind zum Thema Sexualität nur so viel zu erzählen, wie es gerade wissen will. Was tun, wenn ein Kind gar keine Fragen stellt und kein Interesse am Thema zeigt?
Sarah Reist: Eine gute Möglichkeit ist es, dem Kind immer wieder zu signalisieren, dass es mit Fragen, Unsicherheiten und Problemen zu den Eltern kommen kann. Das verringert die Hemmschwelle und kann gerade in diesem Thema sehr wichtig sein. Manchmal gibt es Situationen, welche die Kinder beunruhigen und beschäftigen, die ihnen aber vielleicht peinlich sind. Wenn sie wissen, dass die Eltern auch dann zu ihnen stehen, macht das vieles einfacher. Eine weitere Möglichkeit ist es, Bilderbücher oder Broschüren hinzulegen und älteren Kindern mitzuteilen, wo sie Zugang zu gesichertem Wissen erhalten, zum Beispiel auf Internetseiten wie www.feel-ok.ch.
swissmom: Wenn das Kind Fragen stellt: Wie viele Details sind nötig und wie viel Wahrheit kann es ertragen?
Sarah Reist: Eltern müssen nicht Angst haben, das Kind mit Erklärungen zu überfordern. Wenn es dem Kind zuviel wird, schaltet es gedanklich ab oder geht einfach wieder spielen. Ideal ist es, mit ganz einfachen Erklärungen zu beginnen. Hilfreich kann es sein, ein passendes Bilderbuch dazu zu nehmen (siehe "Weiterführende Links"). Genügen die Antworten dem Kind noch nicht, wird es weiterfragen, bis es die Informationen hat, welche es benötigt.
swissmom: Vielen Eltern ist es unangenehm, wenn sie vom Kind beim Geschlechtsverkehr „ertappt“ werden. Wie handhabt man eine solche Situation am besten?
Sarah Reist: Das kann wirklich eine peinliche Situation sein, wenn das Kind in eine intime Situation "reinplatzt". Vielleicht haben die Eltern die Möglichkeit, das Schlafzimmer abzuschliessen, damit es gar nicht zur Situation kommt. Oder Sie erstellen die Regel des Anklopfens vor Betreten der Zimmer. Sollte es doch passieren, ist es wichtig, Ruhe zu bewahren. Falls das Kind nicht mehr im Zimmer ist, ist es gut, nachzuschauen wie es ihm geht. Es kann auch sein, dass das Kind die Eltern stöhnen hörte. Das können Kinder oft nicht einschätzen und haben Angst, dass sich die Eltern Schmerzen zufügen. Je nach Alter können Kinder die Situation gar nicht einschätzen und sind verunsichert. Eltern können dem Kind dann erklären, dass Mami und Papi sich sehr lieb haben und sich deshalb manchmal so nahekommen und dabei auch stöhnen. Falls das Kind keine Fragen mehr hat, können Eltern ihm anbieten, dass es jederzeit noch Fragen stellen darf, wenn es etwas nicht versteht.
swissmom: Kommt das Kind in den Kindergarten, bringt es manchmal ziemlich derbe Ausdrücke mit nach Hause. Wie sollten Eltern darauf reagieren?
Sarah Reist: An besten fragt man das Kind, was dieses Wort für eine Bedeutung hat. Eltern können sich auf spannende Erklärungen freuen. Meistens verstehen die Kinder ein Wort ganz anders, als dessen Bedeutung ist. Die Kinder merken aber vielleicht, dass das Wort bei den Erwachsenen etwas auslöst und finden die Reaktion aufregend. Sobald das Kind das Wort erklärt hat, können die Erwachsenen sagen, was es bedeutet und wie das Wort auf sie wirkt. Besprechen Sie mit dem Kind, in welchen Situationen das Wort passend ist und in welchen nicht. Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch Sprachregeln für zu Hause aufstellen.
Weiterführende Links
Die Stiftung Berner Gesundheit bietet Schulung, Beratung und Information zum Thema sexuelle Gesundheit. Auf der Website finden Eltern viele wertvolle Infos:
Auskunft bei Fragen zur Sexualerziehung
PDF "Den Körper erleben - Kinder von 0 bis 5 Jahre"
Liste mit Bilderbüchern zum Thema