Sicher ist sicher?

Kinder mit Fliegenpilzen
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Ob im Kinderzimmer, im Haushalt, im Garten, am Wasser oder auf der Strasse - überall können Gefahren lauern und darum ist es ganz gut, dass man uns Mütter und Väter darauf aufmerksam macht, wie wir unsere Kinder schützen können. Ohne das fundierte Wissen der Sicherheitsexperten wäre wohl schon manch ein vermeintlich harmloses Spiel mit Magneten übel ausgegangen und die Begegnung mit dem wunderschönen, jedoch hochgiftigen Eisenhut im Blumenbeet hätte ein schlechtes Ende genommen. Also kein böses Wort über Sicherheitshinweise, wenn ich bitten darf. 

Dennoch überkommen mich zuweilen Zweifel an ihrer Nützlichkeit. Warum? Weil das, was in der Theorie so einleuchtend klingt und von uns Eltern in der Praxis buchstabengetreu umgesetzt wird, im echten Leben von den kleinen Abenteurern, mit denen wir den Alltag teilen, ohne die geringsten Bedenken umgangen wird.

In der Theorie zum Beispiel heisst es, Medikamente müssten ausser Reichweite von Kindern aufbewahrt werden.

In der Praxis halten sich alle gewissenhaften Eltern daran und versorgen deshalb den Antibiotika-Saft mit Erdbeergeschmack, den der Sohn verschrieben bekommen hat, vorschriftsgemäss im Kühlschrank. Natürlich ganz weit oben, dort, wo er für neugierige kleine Hände ganz bestimmt unerreichbar ist.

Im echten Leben entdeckt die Zweijährige aber ausgerechnet in dem Moment, wo Mama stillend mit dem Baby ans Sofa gebunden ist, dass man im Leben so ziemlich alles erreichen kann, wenn man einen Stuhl zu Hilfe nimmt. Innert Sekunden ist das süsse Zeug, das eigentlich über Tage verteilt Löffel für Löffel im Mund des Sohnes hätte landen sollen, im Magen des Kleinkinds verschwunden und Mama hängt mit einer Fachperson von der Tox-Info an der Strippe. Als ob das nicht schon peinlich genug wäre, muss sie ihr mütterliches Versagen danach auch noch der Kinderärztin beichten, denn irgendwie muss sie ja wieder an ein neues Rezept rankommen, wenn der Sohn diese elenden Streptokokken endlich loswerden soll. 

Anderes Beispiel, gleiches Prinzip: In der Theorie wissen alle Eltern bei uns im Dorf, wie gefährlich der Abhang bei der Kirche ist.

In der Praxis meiden sämtliche Mütter und Väter mit ihren kleinen Kindern diesen Ort und schärfen den Grossen ein, auf gar keinen Fall dort zu spielen, weil es zu gefährlich ist.

Im echten Leben aber kommt der Knirps eines Tages freudenstrahlend vom Kindergarten nach Hause und erzählt mit leuchtenden Augen von dem "Geheimweg", den ihm sein bester Freund gezeigt hat. Da dieser Weg für Papa alles andere als geheim ist, kann er auf weitere Schilderungen des Abenteuers verzichten - eine zünftige Moralpredigt ist jetzt wichtiger. Dass er diese Moralpredigt schon Jahre früher hätte halten sollen, dämmert ihm erst, als er sieht, wie der grosse Bruder, den die Eltern stets für so vernünftig und folgsam gehalten hatten, dem Kleinen verschwörerisch zuzwinkert und meint: "Dort waren wir auch immer. Mama und Papa wissen bloss nichts davon. Ist voll cool dort, findest du nicht auch?"

Und noch ein letztes Beispiel: In der Theorie heisst es, dass man die Strasse am sichersten überquert, wenn man erst links schaut, dann rechts und dann noch einmal links, ehe man den Fuss auf den Fussgängerstreifen setzt, um zügig und mit einem Kontrollblick in der Mitte auf die andere Seite zu gelangen. Dies natürlich nur, wenn kein Auto in Sicht ist oder die Autofahrer abgebremst haben. Ansonsten wartet man geduldig, bis sich einer über die Fussgänger erbarmt. 

In der Praxis lassen wir Eltern keine Gelegenheit aus, um mit den Knöpfen das korrekte Verhalten am Zebrastreifen zu üben. Wir lernen mit ihnen Sprüchlein auswendig und warten auch bei absolut verkehrsfreier Strasse endlos an der roten Fussgängerampel, um dem Nachwuchs kein schlechtes Vorbild abzugeben. 

Und im echten Leben? Da rennen zwei kleine, übermütige Jungs trotz elterlicher Mahnrufe vollkommen kopflos vor ein herannahendes Auto und kommen nur dank der Geistesgegenwart des Fahrers unbeschadet über die Strasse. Und was tut der kleine Bruder, der die Schreckensszene vom Trottoir aus beobachtet? Geht er vielleicht in sich denkt darüber nach, wie sich die beiden Grossen in dieser Situation korrekt verhalten hätten? Aber nicht doch. Der macht nur grosse Augen und sagt: "Hast du gesehen, Mama? Das war ein Renault."

Was ich mit diesen Beispielen, die selbstverständlich alle aus dem echten Leben gegriffen sind, sagen will? Ganz einfach:

In der Theorie sind Sicherheitshinweise wichtig und richtig. 

In der Praxis ist es absolut ratsam, diese Hinweise zu berücksichtigen, um die Kinder vor unnötigen Gefahren zu schützen.

Im echten Leben jedoch können wir einfach nur froh sein, dass offenbar ganze Heerscharen von Schutzengeln Überstunden schieben und dabei noch viel schneller unterwegs sind als die kleinen Abenteurer, die sich in atemberaubendem Tempo über sämtliche Sicherheitsempfehlungen hinwegsetzen. 

Letzte Aktualisierung: 25.10.2018, TV