Nur keine Panik, mein Sohn
Neulich war ich mit unserem Ältesten - ein Junge im besten Teenageralter, der mich schon fast um einen Kopf überragt und der pausenlos Witze reisst - im Garten. Der Boden war übersät mit reifen Walderdbeeren und weil weit und breit kein anderes Familienmitglied in Sicht- oder Hörweite war, gehörten die sonnenwarmen Leckereien uns ganz alleine. Ein seltener Moment in unserer Grossfamilie, in der sich gewöhnlich alle ums Essen balgen, als könnten sie sich nur einmal pro Woche richtig satt essen.
"Komm, die Beeren schnappen wir uns jetzt, bevor die anderen rauskommen. Morgen hat's ja wieder Neue", sagte ich mit verschwörerischem Unterton zu meinem Sohn und begann zu pflücken. Er aber stand einfach nur da und fragte: "Was ist mit dem Fuchsbandwurm?" "Was soll schon mit dem Fuchsbandwurm sein?", fragte ich zurück, weil ich dachte, er würde sich mal wieder über eine der übertriebenen Erwachsenenängste lustig machen. Doch für einmal war er erstaunlich ernst. "Du hast uns früher immer gesagt, wenn man die Beeren ungewaschen isst..." "Ach, komm schon", unterbrach ich ihn, "wir sind hier nicht im Wald... Hab' neulich gelesen, dass wir uns viel zu grosse Sorgen machen wegen dieser Sache." "Aber was ist, wenn nicht stimmt, was du gelesen hast? Früher hast du uns nie erlaubt, die Beeren einfach so zu essen und jetzt machst du es selber. Früher hast du gesagt, es könnte sich ja auch mal ein Fuchs im Garten herumtreiben, oder die Katzen könnten das Zeug anschleppen. Früher hast du immer einen auf Panik gemacht..."
"Früher, früher, früher", hätte ich ihn am liebsten nachgeäfft. Immer diese Kinder, die alles, was man in mütterlicher Überbesorgtheit mal so dahingesagt hat, ausgerechnet dann für bare Münze nehmen, wenn das Leben am schönsten ist. Und überhaupt, wann habe ich je einen auf Panik gemacht? Okay, es gab da mal eine Phase, in der ich etwas gluckenhaft war, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich die Sache mit dem Fuchsbandwurm auch während dieser Phase nur beiläufig erwähnt habe, weil ich wusste, dass man das als anständige Mutter halt eben tun muss. Aber ich habe ganz bestimmt nur das Allernötigste zum Thema gesagt. Natürlich ist mit der Sache nicht zu spassen, aber bei all den ungewaschenen Beeren, die ich als Landkind frisch vom Strauch genossen habe, darf ich mir gar nicht allzu viele Gedanken um den Fuchsbandwurm machen, sonst werde ich verrückt.
Dies versuchte ich meinem überbesorgten Teenager zu erklären, doch offenbar ist es unmöglich, gegen etwas anzureden, was sich vor Jahren im Gehirn eines Kleinkindes eingebrannt hat. Mama hat's gesagt, also bleibt es - in diesem einen Fall - für immer wahr, auch wenn man ein Teenager ist. Was, wenn ich mir's recht überlege, gar nicht so schlecht ist. So isst mir wenigstens keiner die Walderdbeeren weg.