Kindergartenwege
Als unser Ältester in den Kindergarten kam, gaben die Kindergärtnerinnen bald einmal den Tarif bekannt. Mit nettem Lächeln und im freundlichen Ton zwar, aber dennoch unmissverständlich: Die Kinder kommen so bald als möglich ohne Mama. Die ersten Tage begleitet Mama das Kind noch bis zu seinem Stuhl, nach einer Weile nur noch bis zur Zimmertür, dann verabschiedet sie sich, ehe das Kind das Gebäude betritt. Nach einigen Wochen braucht Mama nur noch bis über die Strasse mitzukommen, kurz vor den Herbstferien, zeigt der Verkehrspolizist, wie man es richtig macht und von da an schaffen die Kinder den Kindergartenweg alleine.
"Ganz sinnvoll, diese Regelung", sagten wir Mütter zueinander und bald einmal sassen wir gemütlich beim Kaffee beisammen und lästerten über die eine Glucke, die ihr Kind kurz vor Weihnachten noch immer bis zur Mauer, die das Kindergartengelände umgibt, begleitete. Unsere Kinder hatten derweilen ihren Spass. Manchmal kamen sie wegen einer wichtigen Unterredung mit einer Nacktschnecke, die zufällig ihres Weges kroch, zu spät in den Kindergarten. Manchmal kam es zu hektischen Suchaktionen, weil die kleinen Strolche auf dem Heimweg den grossen, starken Schülern auflauern mussten und darob das Mittagessen vergassen. Manchmal riefen zornige Mädchenmütter an und beschwerten sich über die bösen kleinen Jungen, die ihr braves kleines Mädchen ganz ohne Grund an den Zöpfen gezogen hatten. Einmal rief ein braves kleines Mädchen selber an und schrie ins Telefon, wenn mein böser kleiner Junge noch einmal so etwas mache, dann...
So vergnügt ging das damals noch zu. Doch irgendwann, zwischen unserem dritten und vierten Kind, drehte der Wind. Plötzlich war der Kindergartenweg nicht mehr ohne Mama zu bewältigen, nicht nach dem Besuch des Verkehrsinstruktors, nicht nach Weihnachten, auch nicht im zweiten Kindergartenjahr. Plötzlich sah man sich mit der vorwurfsvollen Frage konfrontiert, wie man es verantworten könne, das arme kleine Wesen ganz alleine auf die weite Reise zu schicken. Wehe, man wagte zu antworten, bei den grösseren Kindern habe es auch ganz gut geklappt! Dann war man ganz schnell diejenige, hinter deren Rücken getuschelt wurde. Nehme ich an. Wissen werde ich es nie, denn ich war ja gar nicht mehr dabei, weil ich im Gegensatz zu den anderen zu Hause blieb und einsam meinen Kaffee schlürfte. "Das wird sich schon wieder legen", versuchte ich mich selber zu trösten, denn da war ja keine andere Mutter, die mir zuhörte. Denn während die einen auf dem Weg zum Kindergarten waren, hatten die anderen, mit denen ich früher Kaffee getrunken hatte, schon längst nur noch Schulkinder und interessierten sich nicht mehr für Kindergartenkram. Das hat man eben davon, wenn man fünf Kinder auf die Welt stellt.
Inzwischen gehe ich wieder Tag für Tag zum Kindergarten, diesmal mit unserem Jüngsten, der partout nicht begreifen will, weshalb Mama ihm stets in den Ohren liegt, es werde allmählich Zeit, dass er alleine laufe. "Warum diese Eile, Mama?", wird er sich insgeheim fragen. Wo inzwischen doch bereits die Erstklässler nicht mehr alleine gehen müssen.