Gründungsversammlung der "IG für eine familienfreundliche Schweiz"
Manchmal male ich mir aus, was man alles verändern könnte, wenn sich Eltern gemeinsam für eine familienfreundliche Schweiz stark machten. Mit vereinten Kräften könnten wir bestimmt so einiges durchbringen. Man müsste sich bloss einmal zusammenschliessen, vielleicht eine Interessengemeinschaft ins Leben rufen. Tja, und dann stelle ich mir vor, wie wohl die erste Zusammenkunft einer solchen Interessengemeinschaft ablaufen würde...
Daran beteiligt sind:
Die Sitzungsleiterin (SL)
Eine Vollzeitmutter um die Vierzig (VM)
Ein junger Vater vom Typ "Neuer Mann" (JV)
Eine alleinerziehende Mutter (AM)
Eine esoterisch angehauchte Mutter mit Baby im Tragetuch (TM)
Ein Anzugsträger vom Typ "Meine Frau hält mir den Rücken frei, damit ich Karriere machen kann" (AT)
Ein blasser junger Mann um die Fünfundzwanzig (BJM)
SL: Herzlich willkommen zur Gründungsversammlung unserer "Interessengemeinschaft für eine familienfreundliche Schweiz". Wir sind zusammen gekommen, weil es die Politik verschlafen hat, die Lebensumstände von uns Familien nachhaltig zu verbessern. In der familienergänzenden Kinderbetreuung, um nur ein Beispiel zu nennen, liegt einiges im Ar...
VM fällt ihr ins Wort: Wollen Sie damit sagen, dass Familienfreundlichkeit für Sie vor allem bedeutet, die Frauen so bald als möglich nach der Geburt zurück ins Berufsleben zu schleusen? Ich möchte gleich hier und jetzt klarstellen, dass ich nur mitmache, wenn wir uns mit vollem Einsatz für die Interessen der Mütter stark machen, die freiwillig zu Hause bleiben und auf ein Zweiteinkommen verzichten.
SL: Nein, das möchte ich damit keineswegs sagen. Eigentlich möchte ich an dieser Stelle noch gar nicht auf spezifische Anliegen eingehen, sondern erst einmal einige einleitende Worte sprechen. Ich wollte nur mal eines der vielen Beispiele nennen, wie man Müttern in der Schweiz das Leben...
JV unterbricht die SL: Ich will doch hoffen, dass wir hier nicht immer nur von Müttern reden. Väter sind für Kinder mindestens gleich wichtig wie Mütter, wenn nicht sogar wichtiger. (Er kramt in seinen Unterlagen.) Wenn ich kurz aus dieser Studie zitieren dürfte, die neulich vom Forschungsinstitut...
SL unterbricht ihn: Entschuldigen Sie bitte, aber soweit sind wir noch nicht...
JV: Hab ich mir's doch gedacht. Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert und noch immer soll ein Vater nicht mehr sein als der Familienernährer, der die Kinder schlafend und am Wochenende zu Gesicht bekommt.
SL, leicht irritiert: Aber das wollte ich doch keineswegs sagen. Später können wir sehr gerne auf die Studie zu sprechen kommen, jetzt aber möchte ich einfach nur unser Treffen mit einigen allgemein gefassten Worten eröffnen. Ich denke, wir sind uns hier alle einig, dass sowohl Mütter als auch Väter ihr Bestes geben, während Politik und Wirtschaft...
Schon wieder wird die SL unterbrochen, diesmal von AM: Väter, die ihr Bestes geben? Dass ich nicht lache! Wenn du Glück hast, bleibt er bis nach der Geburt, wenn du Pech hast, rennst du jeden Monat den Alimenten nach. Den Vater, der sich freiwillig um seinen Nachwuchs kümmert, möchte ich erst mal kennen lernen.
JV, empört: Und ob ich mich um mein Kind kümmere. Seit der Geburt arbeite ich nur noch 95 Prozent. Somit habe ich jede zweite Woche meinen Papitag, an dem ich mit dem Kleinen...
VM schneidet ihm das Wort ab: Oh ja, ich weiss, wie so ein Papitag aussieht. Zwei Stunden im Café mit der Tageszeitung, eine halbe Stunde auf dem Spielplatz, zum Mittagessen eine Dose Ravioli, drei Stunden Mittagsschlaf, danach ein wenig Brio-Bahn und abends, wenn Mama nach Hause kommt, ist im Haushalt nichts erledigt.
JV will etwas entgegnen, doch TM kommt ihm zuvor: Wenn wir jetzt schon auf unsere Differenzen starren wie das Kaninchen auf die Kobra, erreichen wir nichts. Ich möchte uns allen Mut zusprechen. Die Geburt unserer Kinder hat Urkräfte in uns freigesetzt, die uns nun die Energie geben, dieses von der Geldgier getriebene Land in einen blühenden Obstgarten zu verwandeln, in dem Kinderlachen und fröhliches Singen den Lärm von Baumaschinen verdrängt. Ich...
Weiter kommt auch sie nicht, denn jetzt meldet sich AT zu Wort: Wir sind doch hier keine Selbsthilfegruppe. Wir wollen eine ernst zu nehmende Interessengemeinschaft bilden, die Hand in Hand mit den bürgerlichen Parteien eine wirtschaftsfreundliche Familienpo...
SL, inzwischen sichtlich genervt, schneidet ihm brüsk das Wort ab: Ich glaube, wir alle sind uns darin einig, dass diese Interessengemeinschaft nur ins Leben gerufen werden musste, weil sowohl Politik als auch Wirtschaft kläglich darin versagt haben, kinder- und elternfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Wenn ich jetzt auf meine einleitenden Worte zurückkommen dürfte. (Sie wirft einen Blick auf ihre Notizen, sucht nach der Stelle, wo sie unterbrochen worden ist.)
BJM nutzt die Gesprächspause, um auch endlich etwas zu sagen: Mich würde ja noch interessieren, wie wir den schwammigen Begriff "Familie" überhaupt definieren wollen. Ich zum Beispiel habe zwar keine Kinder, fühle mich aber meinem Goldhamster so tief verbunden, als wäre er mein eigener Sohn. Mein Antrag auf eine Kinderzulage wurde aber ohne Begründung abgeschmettert. Ich finde, auch solche Missstände müssten wir bekämpfen.
Einen Moment lang starren ihn alle fassungslos an, keiner sagt ein Wort. Dann meint TM: Ich finde, dieses Anliegen hat durchaus auch seine Berechtigung. Allerdings frage ich mich, ob Elternliebe stets mit Geld aufgewogen werden muss. Wenn es uns nur um den schnöden Mammon geht, liegt kein guter Geist auf unserer Arbeit, des bin ich mir sicher.
AM ätzt: Und ich bin mir sicher, dass ich durchdrehe, wenn sich die finanzielle Lage von Einelternfamilien nicht endlich bessert. Wisst ihr überhaupt, was es bedeutet, jeden Rappen umdrehen zu müssen, weil der Kerl, der nach der Geburt des dritten Kindes das Weite gesucht hat, nie rechtzeitig zahlt?
AT schüttelt entnervt den Kopf: Wieder mal die alte Leier der ach so armen alleinerziehenden Mutter. Haben Sie eine Vorstellung, wie viele abgehalfterte Väter ich als Anwalt vertrete? Väter, die ihrer geldgierigen Ex jeden roten Rappen abliefern müssen und denen obendrein noch das Besuchsrecht verwehrt wird.
VM nickt zustimmend mit dem Kopf: Diese Seite der Medaille sollte man auch mal sehen. Und dann stellt sich ja auch noch die Frage, warum der Kerl abgehauen ist. Manche Frauen sind doch einfach selber...
AM steigt die Zornesröte ins Gesicht: Ich soll selber schuld sein? Soll ich euch mal eine Geschichte erzählen? Geldgierige Anwälte und rechthaberische Vollzeitmütter kommen zuhauf darin vor, die Geschichte dürfte euch also interessieren.
TM versucht zu beschwichtigen: Hören wir doch auf, einander gegenseitig mit Vorwürfen zu überhäufen. Wir alle sind Mütter und Väter, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. (Sie schenkt dem Hamsterpapa ein mildes Lächeln.) Wir alle haben diese grenzenlose Kraft in uns, die Schweiz zu verändern. Ich schlage vor, wir fassen uns jetzt alle bei den Händen und...
Weiter kommt sie nicht, denn SL springt auf und packt ihre Unterlagen zusammen: Nichts da, wir fassen uns nicht bei den Händen. Wir tun überhaupt gar nichts mehr. In meinen eröffnenden Worten hätte ich eigentlich darauf hinweisen wollen, dass es noch viel zu tun gibt, ehe die Schweiz ein Land ist, in dem es allen Familien - egal, ob traditionell, alleinerziehend, arm, berufstätig oder was auch immer - gut geht. Doch wie ich sehe, schaffen wir es nicht mal, diese Tatsache festzuhalten, ohne einander an die Gurgel zu gehen. Somit erkläre ich das Projekt "Interessengemeinschaft für eine familienfreundliche Schweiz" für gescheitert.
SL verlässt den Raum und knallt die Tür. Man erzählt sich, die anderen hätten munter weiter gestritten, bis der Wirt - ein vierfacher Vater, der das Säli für den ehrenwerten Zweck kostenlos zur Verfügung gestellt hatte - die Polizei aufgeboten habe, um die Streithähne des Lokals zu verweisen.