Die neuromotorische Entwicklung fördern
Interview mit Judith Höferlin
Die Neurophysiologische Entwicklungsförderung (INPP) ist ein Diagnostik- und Übungsprogramm. Es richtet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Symptomen aus dem Formenkreis AD(H)S, Dyslexie, Dyskalkulie, Dyspraxie, Wahrnehmungsstörungen, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, emotionale Anpassungsprobleme, Ängste, Panikstörungen sowie Asperger Syndrom.
swissmom: Neurophysiologische Entwicklungsförderung – das klingt ziemlich kompliziert. Können Sie kurz erläutern, was das bedeutet?
Judith Höferlin: Grundlage ist die Entwicklung des zentralen Nervensystems. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, hat es sich überlebenswichtige Reflexe im Mutterleib schon angeeignet. So hat es zum Beispiel einen Saugreflex. Wird es gleich nach der Geburt an die Brust gelegt, wird dieser Reflex ausgelöst. Hält man einem Baby den Finger hin, lässt es ihn nicht mehr los. Diese Reflexe spielen sich auf der Stammhirnebene, also quasi auf einer Überlebensebene, ab und werden irgendwann nicht mehr benötigt. Also werden sie im Rahmen der neuronalen Entwicklung gehemmt und integriert. Sie werden von reifen Halte- und Stellreflexen abgelöst, die Grundlage für Willkürmotorik, Handlungsplanung und Koordination sind. Je weiter sich das Grosshirn entwickelt, desto mehr werden die frühkindlichen Reflexe gedämpft und unterdrückt. Wenn diese Entwicklung gestört ist, sind Verzögerungen erkennbar. Die Neurophysiologische Entwicklungsförderung fördert auf der neuromotorischen Ebene das, was vorhanden ist.
swissmom: Unter welchen Voraussetzungen kann es zu solchen Entwicklungsverzögerungen kommt?
Judith Höferlin: Das Nervensystem wird, wie gesagt, im Mutterleib schon ausgebildet und die Reflexe sind da, wenn das Kind auf die Welt kommt. Wenn das Kind in der Schwangerschaft Stress ausgesetzt ist, mit Medikamenten oder im schlimmsten Fall sogar mit Alkohol und Drogen in Berührung kommt, kann es sein, dass diese Entwicklung gehindert wird. Auch eine schwierige Geburt kann diese Entwicklung beeinträchtigen. Im Prinzip geht man davon aus, dass die frühkindlichen Reflexe nur im ersten Lebensjahr nachweisbar und danach abgebaut sind. Deshalb wurden sie früher nach dem ersten Lebensjahr auch nicht mehr getestet. Bei manchen Kindern sind sie aber auch danach noch vorhanden. Eigentlich sollten sie nach dem ersten Jahr verschwunden sein, aber wenn es in dieser Zeit irgendwelche Probleme gibt – das können auch Mittelohrentzündungen oder Fieberkrämpfe sein – kann es zu diesen Entwicklungsverzögerungen kommen.
Judith Höferlin ist ausgebildete Physiotherapeutin und Mutter von drei Kindern. Gemeinsam mit ihrem Mann leitet sie das Höferlin-Institut, dem mehrere Phyisiotherapie-Praxen im Raum Basel angeschlossen sind. Seit 2010 arbeitet sie mit der INPP-Methode. Sie hält Vorträge und leitet Workshops an Schulen und auf Konferenzen.
Am 18. und 19. Mai 2019 findet in Zürich die 25. INPP-Konferenz statt. Die Fachvorträge drehen sich rund um das Thema "Neuromotorische Unreife bei kindlichen Lern-, Leistungs- und Verhaltensproblemen". Weitere Infos zur Konferenz finden Sie hier.
swissmom: Welche Anzeichen deuten im Säuglings- und Kleinkindalter darauf hin, dass eine solche Entwicklungsverzögerung vorliegen könnte?
Judith Höferlin: Anzeichen können sein, dass Kinder nach der Geburt Anpassungsschwierigkeiten oder Regulierungsschwierigkeiten haben. Zum Beispiel Schreikinder oder auch Kinder, die sehr, sehr ruhig sind - also diejenigen, die eigentlich immer nur schlafen. Auch Babys, die ganz klein sind, die schlecht trinken, sehr schwach sind und nicht richtig saugen – die also eigentlich die Reflexe gar nicht richtig entwickeln. Später sieht man dann vielleicht, dass sich ein Kind nicht dreht oder in der motorischen Entwicklung verzögert ist.
swissmom: Wie äussert sich dies später, im Vorschul- und Schulalter?
Judith Höferlin: Es können ganz unterschiedliche Kinder betroffen sein. Beispielsweise Kinder, die an unerklärlichen, stark ausgeprägten Ängsten leiden. Kinder, die eine so starke Verlustangst haben, dass sie sich fast nicht von der Mutter lösen können und selber keine Autonomie entwickeln. Es können auch die ganz Ruhigen sein, die sogenannten «Rückzugskinder», die eher gemobbt werden und von denen die Lehrer sagen, sie würden sich selber im Wege stehen. Sie sind oft gut in der Schule, können sich aber nicht autonom entwickeln und laufen mit den anderen mit. Dann gibt es die Kinder, die eher hyperaktiv sind, die den Unterricht stören und andere schlagen. Diese Kinder hat man oft schon früh im Fokus, weil sie auffällig sind. Interessanterweise ist es auch oft so, dass gerade die Kinder, die motorisch recht gut sind, die zum Beispiel relativ früh laufen können und gut Velo fahren, trotzdem Probleme haben mit den Reflexen. Man meint dann, sie seien motorisch fit, denn sie können halt alles, was schnell geht. Die Schwierigkeiten zeigen sich, wenn sie ruhig sitzen oder langsam gehen sollten. Dies ist für das Gleichgewichtsorgan schwieriger als schnelle Bewegungen.
swissmom: Was ist unter dem Begriff «neuromotorische Schulreife» zu verstehen?
Judith Höferlin: Es ist häufig so, dass die Kinder motorisch noch gar nicht fit sind für die Schule. In die Schule müssen sie natürlich trotzdem, was auch richtig ist. Die Kinder haben keine Pathologie, das heisst, sie sind nicht krank. Was nicht funktioniert, ist das Zusammenspiel. Die Regelkreise und die Reflexe sind zu langsam und nicht gut ausgeprägt. Sie haben Hände, sie haben Augen, sie haben Ohren - aber die Motorik ist noch nicht gut entwickelt. Dann haben sie zum Beispiel Mühe mit dem Schreiben. In der Schule heisst es: «Male etwas! Schreib etwas! Schneide das aus!» Wenn ein Kind damit Schwierigkeiten hat, heisst es, es sei noch nicht schulreif oder es sei in seiner Intelligenz gemindert. Aber eigentlich sind es motorische Leistungen, die es nicht erbringen konnte, kognitiv ist es aber vielleicht relativ weit. Ein solches Kind hat vielleicht einen Sinn für Humor und kann Ironie verstehen, was eine hohe kognitive Leistung ist. Aber es kriegt die Dinge nicht aufs Papier, weil es motorisch noch nicht so weit ist. Ein grosses Thema ist auch das Gleichgewicht. Die Kinder müssen ruhig sitzen und ruhig stehen. Dazu müssen sie hohe Gleichgewichtsfähigkeiten haben - etwas, was sie oft gerade nicht haben. Dann achten sie die ganze Zeit darauf, wie sie sitzen müssen und es fehlt ihnen die Kapazität für ihre kognitiven Fähigkeiten. Ähnlich ist es mit den Augen: Erst muss man nach vorne sehen, dann wieder runter, dann wieder ausblenden, was links und rechts passiert. Das alles sind motorische Leistungen und wenn ein Kind das nicht kann, ist es schlecht in der Schule. Oder es verhält sich auffällig, obschon es von seinen Fähigkeiten her gut mitkommen sollte. Die Förderung hat zum Ziel, solchen Kindern die motorischen Grundlagen zu geben, damit sie Kapazität frei haben, um ihre kognitiven Fähigkeiten freizusetzen.
swissmom: Wie kann den betroffenen Kindern gezielt geholfen werden?
Judith Höferlin: Wenn ein Kind zu uns kommt, führen wir einen umfangreichen Test durch, bei dem geschaut wird, wo es hakt. Ich führe ein sehr genaues Assessment durch, schaue, welche Reflexe betroffen sind und dann weiss ich ganz genau, welche Übungen das Kind braucht. Ein Teil unserer Arbeit ist aber auch die Elternarbeit. Es grenzt auch ein wenig an Familienberatung. Es geht darum, das Kind anzunehmen mit seinen Besonderheiten. Es geht auch um die Grenzen in der Erziehung. Wo muss man streng sein und wo nicht? Oft helfen Rituale. Besonders bei Kindern, die Regulierungsschwierigkeiten haben, die morgens nicht wach werden und abends nicht ins Bett gehen. Da hilft es, wenn man abends alles ruhiger gestaltet. Oder es geht darum, das Kind aufzufangen, zum Beispiel, wenn es austickt, weil der geplante Familienausflug wegen schlechtem Wetter ins Wasser fällt. Dass man es langsam darauf vorbereitet, wenn ein Lehrerwechsel ansteht, etc. Beim zweiten Termin teste ich, ob sich das Assessment verbessert hat. Falls ja, müsste sich natürlich auch die Situation in der Familie verbessert haben. Wenn die Testresultate besser werden und sich die Situation zu Hause bessert, weiss ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn sich eines von beiden nicht bessert, dann habe ich vielleicht nicht den richtigen Ansatz, dann müssen wir weiterschauen. Es lässt sich also sehr gut validieren, ob wir mit der Therapie auf dem richtigen Weg sind oder nicht.
swissmom: In welchen Fällen kann die INPP-Methode helfen?
Judith Höferlin: Ganz allgemein gesagt bei Lernschwierigkeiten und bei Kindern, die Regulierungsschwierigkeiten haben. Bei ganz ruhigen Kindern, die Ängste haben und die teilweise auch gemobbt werden, können wir sehr gut helfen. Bei hyperaktiven Kindern stosse ich eher an Grenzen, aber auch bei ihnen bessert sich die Situation oft merklich. Sie werden stabiler und kontrollierter. Bei Lese-Rechtschreibeschwierigkeit zeigen sich meistens deutliche Verbesserungen. Auch Kindern, die sich ins autistische Spektrum bewegen, kann man damit sehr gut helfen.
swissmom: Die INPP-Methode gibt es auch für Gruppen. Wie sieht diese Arbeit aus?
Judith Höferlin: Dies ist ein Programm für Lehrpersonen, oft in Begleitung eines Therapeuten. Die Lehrpersonen machen mit der Klasse während eines ganzen Schuljahres jeden Morgen eine Übung aus einem Übungsprogramm für Schulen. Diese wird auch durch Assessment validiert und angepasst. Das morgendliche Ritual dauert jeweils nur ganz kurz, vielleicht zehn Minuten. Zahlreiche Studien belegen, dass sich dadurch vieles verbessert: die Kinder werden ruhiger, es zeigen sich Fortschritte in der Lesefertigkeit, der soziale Umgang in der Klasse verändert sich positiv, die motorische Schulreife der ganzen Klasse verbessert sich. Dieses Programm ist allgemeiner gehalten, die Übungen sind allgemeiner. Alleine damit können Kinder, die ein starkes Leiden haben, nicht aufgefangen werden. Sie benötigen individuelle Förderung.
swissmom: Was kann die Neurophysiologische Entwicklungsförderung bewirken? Und wo liegen die Grenzen?
Judith Höferlin: Ganz genau prognostizieren kann man das jeweils nicht, manchmal gibt es echte Überraschungen. Den Charakter eines Kindes ändert man natürlich nicht. Wenn es ein ruhiges Kind ist, bleibt es eher ruhig, wenn es ein lautes Kind ist, bleibt es eher laut. Meistens kann sich das Kind aber besser regulieren. Es spürt sich besser, es kann besser reflektieren. Wenn ein Kind austickt – was manchmal eben immer noch vorkommen kann -, kommt es viel schneller wieder runter und es kann sich hinterher reflektieren. Die Regulierung funktioniert viel besser. Meistens können sich die Kinder auch besser organisieren, die Hausaufgabensituation entspannt sich deutlich. Da sagen die Kinder jeweils: «Jetzt haben wir nur noch leichte Sachen auf. Vorher war es schwierig und jetzt ist es leicht.» Die Situation in der Familie bessert sich meist merklich. Grenzen gibt es, wenn eine Familie noch ganz andere Probleme hat, zum Beispiel Depressionen, Krankheiten oder ein Todesfall, der zu verarbeiten ist. Manchmal zeigt sich eine Grenze erst im Assessment, wenn sich nichts verändert. Es kann zum Beispiel sein, dass nicht die Reflexe die Ursache sind, sondern eine Autoimmunerkrankung oder eine Stoffwechselkrankheit. Dann müssen wir gemeinsam herausfinden, wie es weitergeht. Ich kann dann für mich sagen, mein Teil ist gemacht, aber irgendwo liegt noch etwas im Argen.
swissmom: Neuromotorisch unreife Kinder haben oft einen langen Leidensweg hinter sich, bis die Ursache ihrer Schulprobleme endlich erkannt wird. Was müsste sich ändern, damit diese Kinder schneller Hilfe bekommen?
Judith Höferlin: Ich glaube, es geht über die Aufklärung, dass man Erzieherinnen, Lehrpersonen und zum Beispiel auch Mütter- und Väterberaterinnen schult. In den Kindertagesstätten, wo die ersten Probleme auftreten, später dann im Kindergarten und in der Schule, wenn man schon viel ausprobiert hat und merkt, dass man nicht weiterkommt. Dann ist es meistens richtig, wenn ein Kind eine Therapie bekommt. Es ist auch wichtig, dass die Lehrpersonen verstehen, dass die schulischen Leistungen von der Motorik gesteuert werden. Wenn die Motorik nicht stimmt, dann funktionieren die ganzen kopflastigen Sachen nicht. Ich arbeite mit Kindern, die in der zweiten oder dritten Klasse einen Klassenvertrag haben. Wenn diese Kinder sich nicht regulieren können und sich streiten, dann denken die doch nicht an diesen Vertrag. Sie denken nicht: «Ich habe unterschrieben, ich darf nicht laut sein.» Das funktioniert nicht, dessen müssen wir uns bewusst werden. Was es meiner Meinung nach nicht braucht, ist ein flächendeckendes Screening wie bei der Zahnprophylaxe. Man muss immer sehr aufpassen: Es gibt viele Kinder, bei denen man frühkindliche Reflexe noch nachweisen kann und die kommen ganz gut durchs Leben. Als Erstes muss ich also immer schauen, ob ein Kind leidet, ob die Familie leidet und dann kann ich schauen, wo das Problem liegt. Ich kann nicht sagen: Ich finde da Reflexe, also muss ich das Kind behandeln. Es ist ganz wichtig, dass man da keinen Therapiehype auslöst. Man soll schauen, ob man das Kind auch ohne Therapie auffangen kann und ob das Setting in der Schule richtig ist. Es ist wichtig, die Kinder so zu nehmen, wie sie sind.
swissmom: Wie können Eltern vorgehen, die den Verdacht haben, dass bei ihrem Kind eine neuromotorische Unreife vorliegen könnte?
Judith Höferlin: Bei einer leicht verzögerten Entwicklung und Lernschwierigkeiten ist nicht der Kinderarzt die erste Adresse, denn Kinderärzte haben ihre Prioritäten meines Erachtens bei Kindern mit schweren Erkrankungen oder sehr starken Entwicklungsverzögerungen. Die Kinder und die Eltern leiden aber natürlich trotzdem unter der Situation und auch die Lehrpersonen sind mit betroffen. Am besten füllen die Eltern einfach mal den Fragebogen auf unserer Homepage aus und rufen vielleicht mal bei einem der Therapeuten an. Oft kann man schon am Telefon klären, ob eine Therapie bei dem Kind sinnvoll wäre oder nicht.
swissmom: Wie sieht es mit den Kosten aus?
Judith Höferlin: Die Kosten werden von den Eltern getragen. Der Test ist natürlich etwas teurer, danach fallen noch die Kosten für die Wiedervorstellungen alle zwei Monate an. Diese liegen bei 180 Franken. Insgesamt belaufen sich die Kosten auf 1200 bis 1800 Franken, verteilt auf 1,5 bis 2 Jahre. Man kann natürlich auch mit dem Therapeuten eine individuelle Vereinbarung für monatliche Zahlungen machen. Dann belaufen sich die Kosten auf rund 100 Franken pro Monat. Da die Eltern das Programm zu Hause mit ihren Kindern durchführen und nur alle 8 Wochen zur Wiedervorstellung kommen, sind die Kosten für die meisten Familien gut tragbar.