We­nig Sex in der Klein­kind­pha­se?

Wenn ein Lie­bes­paar zum El­tern­paar wird: In­ter­view mit der El­tern­bild­ne­rin und Se­xu­al­the­ra­peu­tin Kris­ti­na Pfis­ter

Familie im Bett
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swiss­mom: Mit der Ge­burt ei­nes Kin­des wird im bild­li­chen Sinn der Akt der Lie­be ei­nes Paa­res voll­endet. Die gros­se Freu­de über das neu ent­stan­de­ne Le­ben ver­än­dert die Lie­bes­be­zie­hung ei­nes Paa­res, ins­be­son­de­re auch die se­xu­el­le Be­zie­hung. Kön­nen Sie aus Ih­rer Er­fah­rung mit Paar­be­zie­hun­gen die Ver­än­de­run­gen be­schrei­ben?

Kris­ti­na Pfis­ter: Wenn ein Paar zum El­tern­paar wird, muss es eine Viel­zahl von Hür­den gleich­zei­tig meis­tern. Auch die Se­xua­li­tät kann zu ei­ner Hür­de wer­den. Etwa ein Drit­tel der Paa­re fin­den 6 bis12 Mo­na­te nach ei­ner Ge­burt wie­der zu­rück zur ge­wohn­ten Se­xua­li­tät. Bei ei­nem Drit­tel geht es soso lala und beim letz­ten Drit­tel ist die in­ti­me Be­zie­hung ziem­lich ins Sto­cken ge­ra­ten. Es will ein­fach nicht mehr "klap­pen". Meist bringt das un­ter­schied­li­che In­ter­es­se am Sex das Paar in end­lo­se Dis­kus­sio­nen oder läh­men­des Schwei­gen und Hilf­lo­sig­keit. Eine sich ge­gen­sei­tig ver­stär­ken­de Dy­na­mik ent­steht, die das Paar vor ech­te Pro­ble­me stellt. Ge­nau die­se Dy­na­mik möch­te ich nä­her be­trach­ten. Wenn ich im Fol­gen­den von Frau und Mann rede, dann sind da­mit nur jene ge­meint, die in die­ser Dy­na­mik ste­cken.

Zur Per­son

Kristina Pfister

Kristina Pfister Jaermann ist Elternbildnerin und Sexualtherapeutin. Sie ist Mutter zweier Söhne.

swiss­mom: Wie ver­än­dert sich die Se­xua­li­tät mit der Ge­burt ei­nes Kin­des?

Kris­ti­na Pfis­ter: Die In­nig­keit ei­ner Paar­be­zie­hung ist bei der Ge­burt des ers­ten Kin­des am höchs­ten. Auch in der Se­xua­li­tät gibt es den As­pekt der In­nig­keit. Doch bei vie­len Paa­ren geht die In­nig­keit in der Se­xua­li­tät ver­lo­ren. Für die meis­ten Frau­en tritt in der Klein­kind­pha­se das Se­xu­el­le, Ero­ti­sche und Lust­vol­le in den Hin­ter­grund. Sie zieht sich zu­rück, weicht aus und ver­trös­tet sich und ihn auf den Zeit­punkt X, der je län­ger je mehr am Ho­ri­zont ver­schwin­det. Bei­de schmu­sen mit dem Kind, wel­ches mitt­ler­wei­le viel­leicht schon 2 Jah­re alt ist, aber das sinn­lich-ero­ti­sche der Paar­be­zie­hung bleibt auf der Stre­cke. Der Mann – zu­nächst ver­stän­dig – fühlt sich je län­ger je mehr ab­ge­lehnt. Er ge­rät in Selbst­zwei­fel, denkt, mit ihm stimmt et­was nicht und schwankt zwi­schen Hoff­nung und Ge­reizt­heit und Rat­lo­sig­keit.

swiss­mom: Wel­che Chan­cen hat Mann in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on? Kann er das Ge­sche­hen po­si­tiv be­ein­flus­sen und sich gleich­zei­tig als se­xu­el­les männ­li­ches We­sen füh­len?

Kris­ti­na Pfis­ter: Ja, er kann. Ers­tens mit Ver­ständ­nis und zwei­tens, in­dem er sich an ein neu­es Ka­pi­tel der Se­xua­li­tät wagt. Mann muss wis­sen: Das Nein der Frau gilt nicht ihm. Es ent­steht aus der Über­for­de­rung, weil sie ge­ra­de nicht nein sa­gen kann. Klingt pa­ra­dox.

swiss­mom: Kön­nen Sie die Ver­än­de­run­gen im Frau­en­le­ben be­schrei­ben? Hilf­reich wäre es für den Mann zu wis­sen, was Frau­en ge­fühls­mäs­sig nach der Ge­burt ei­nes Kin­des er­le­ben. Kön­nen Sie aus Ih­rer Er­fah­rung in der Pra­xis be­rich­ten?

Kris­ti­na Pfis­ter: Die Frau lebt in ei­nem gros­sen Zwie­spalt. Ide­al und Rea­li­tät klaf­fen ex­trem weit aus­ein­an­der. Sie wür­de so ger­ne das se­xu­el­le Be­geh­ren ha­ben. So wie frü­her, so wie "die an­de­ren". Sie wäre so­gar be­reit, ein Me­di­ka­ment wie Via­gra für die Frau zu schlu­cken, nur um die­sem De­fi­zit­ge­fühl zu ent­ge­hen. Ihre Rea­li­tät ist, dass sie meist das Ge­gen­teil von Be­dürf­nis, Be­geh­ren, Lust bei sich wahr­nimmt, näm­lich Ab­wehr, Ver­tei­di­gung, Schutz­ver­hal­ten. Die Frau lei­det un­ter die­sem in­ne­ren Span­nungs­zu­stand. Zwar hät­te sie sehr wohl das Be­dürf­nis nach Nähe, nach Um­ar­mun­gen und Ku­scheln, aber weil ihre Er­fah­rung ihr sagt, dass Ku­scheln und Ge­schlechts­ver­kehr nur im Dop­pel­pack zu ha­ben sind, und ihr die se­xu­el­le Selbst­si­cher­heit fehlt, im Ku­schel-/Lie­bes­spiel nur so weit zu ge­hen, wie es für sie stimmt, sagt sie zum gan­zen Pa­ket nein.

swiss­mom: Das „nein“ der Frau schmerzt den Mann, er emp­fin­det dies als Zu­rück­wei­sung. Kön­nen Sie die männ­li­chen Ge­füh­le be­schrei­ben?

Kris­ti­na Pfis­ter: Er ist ei­ner Rei­he un­an­ge­neh­mer Ge­füh­le aus­ge­setzt. Was ge­schieht, wenn Mann ei­nen Korb er­hält? Das al­ler­ers­te Ge­fühl ist Ent­täu­schung und Trau­er, ge­folgt von ei­nem Zu­stand der Angst mit Zu­kunfts­be­zug (z.B.: Die Paar­se­xua­li­tät wird ver­lo­ren ge­hen) und eine Angst mit Ge­gen­warts­be­zug (z.B.: Wenn ich ein bes­se­rer Mann wäre, wür­de sie mich nicht ab­wei­sen). Dar­aus ent­ste­hen dann Wut, Trotz, Rück­zug und even­tu­ell der Wunsch nach Ver­gel­tung. Das ist ein ganz nor­ma­ler Vor­gang, der zum Mensch­sein ge­hört und ei­ni­ge Mi­nu­ten an­hält. Aber dies ist nicht das Pro­blem. Das Pro­blem ist, in die­sem Zu­stand über Stun­den und Tage hän­gen zu blei­ben und sich sel­ber in die­ser Sau­ce zu ma­ri­nie­ren. Man be­för­dert sich sel­ber ins Aus und fühlt sich iso­liert und ab­ge­schnit­ten und in ohn­mäch­ti­ger War­te­po­si­ti­on. Da­durch ver­liert der Mann an Aus­strah­lung und An­zie­hungs­kraft und sorgt so un­be­wusst da­für, den Teu­fels­kreis des Paa­res zu för­dern. Das Ge­fühl, ein Recht auf Sex zu ha­ben, führt zu ei­ner Er­war­tungs- oder For­de­rungs­hal­tung. Wenn er mit die­ser be­dürf­ti­gen Hal­tung auf die Frau zu­geht, wehrt sie erst recht ab, - zum Bei­spiel mit "Nicht auch noch du!" - weil sie mit den be­dürf­ti­gen Kin­dern ja schon bis an ihre Gren­zen be­las­tet ist. 

swiss­mom: Wie kann der Mann die­se Zu­rück­wei­sung in eine po­si­ti­ve En­er­gie um­wan­deln und so die Se­xua­li­tät in der Paar­be­zie­hung sanft be­ein­flus­sen?

Kris­ti­na Pfis­ter: Män­ner, die die­se be­dürf­ti­ge Hal­tung ver­las­sen und vom Bett­ler wie­der zum Kö­nig wer­den, durch­bre­chen so den Teu­fels­kreis. Der Mann muss wis­sen, dass er eine Wahl hat. Ne­ben die­sem Ge­fühls­zu­stand der Be­dürf­tig­keit, „Ohne dich fehlt mir ganz viel“, be­sitzt er im­mer auch den Ge­gen­pol der Fül­le, Ei­gen­stän­dig­keit, Un­ab­hän­gig­keit und Stär­ke in sich. Und Charme! Charme kommt im­mer aus der Fül­le, nicht aus dem Man­gel. In­dem sich der Mann wie­der auf sei­nen Charme, sei­nen Kö­nig und sei­ne phal­li­sche Ganz­heit be­sinnt, hat er gute Chan­cen, das Nein …der Frau – wenn auch lang­sam – zu ei­nem Ja zu wen­den. 

swiss­mom: Kön­nen Sie dies kon­kret be­schrei­ben?

Kris­ti­na Pfis­ter: Die Frau im­mer wie­der zum Lie­bes­spiel ein­la­den, sie ver­wöh­nen, sie näh­ren, sie lie­ben und da­bei vor­erst den Wunsch nach Pe­ne­tra­ti­on ra­di­kal fal­len las­sen. Er soll­te je­der Ver­su­chung wi­der­ste­hen, et­was von ihr "zu wol­len" und - das ist ganz wich­tig - sich den­noch phal­lisch, ganz Mann und kö­nig­lich zu füh­len. Der Pe­nis muss bei die­sem Lie­bes­spiel ohne Ver­ei­ni­gung ja nicht dar­ben. Es sind ge­nug Hän­de da, ihn eben­falls zu ver­wöh­nen. Wenn das aus ir­gend­ei­nem Grund nicht ge­wollt wird und der Drang nach Ent­la­dung zu gross ist: vor­her eine selbst­be­wuss­te Solo-Sex-Num­mer ein­le­gen - viel­leicht mag die Frau ja da­bei zu­se­hen. Ma­chen Sie die­se "Kur" drei Mo­na­te lang. Auf die­se Wei­se holt der Mann mit gros­ser Wahr­schein­lich­keit die Frau wie­der zu­rück ins Bett. Das Bett wird nicht ge­mie­den, die In­ti­mi­tät bleibt le­ben­dig und ist so die al­ler­bes­te Vor­aus­set­zung für die Frau se­xu­ell auch wirk­lich auf­ma­chen zu kön­nen und den Mann wie­der zu be­geh­ren. Das neue Ka­pi­tel, das der Mann auf die­se Wei­se fin­den kann, ist das "Ent­ste­hen­las­sen­de", das "Ver­wei­len­de" in der Se­xua­li­tät. Denn das Stre­ben­de, Ziel-/Or­gas­mus­ori­en­tier­te ist nur ein Teil der se­xu­el­len Art der Be­geg­nung. Das In­ni­ge ei­ner Paar­be­zie­hung be­kommt durch ab­sichts­lo­ses kör­per­li­ches Lie­ben viel Nah­rung.

swiss­mom: Wie ver­än­dern sich Män­ner, die Vä­ter ge­wor­den sind?

Kris­ti­na Pfis­ter: Vie­le Vä­ter sind durch das Zu­sam­men­sein mit Ba­bys und Kin­dern so tief in ih­rem Her­zen be­rührt, dass sich ih­nen qua­si ge­schenkt neue in­ne­re Wel­ten auf­tun. Die Fä­hig­keit, sich wirk­lich be­rüh­ren zu las­sen, fliesst dann eben auch in die Se­xua­li­tät mit ein. In die­sem Sin­ne er­wei­tern Kin­der das Ver­ständ­nis von Se­xua­li­tät und Lie­be.

swiss­mom: Kön­nen Sie Paa­ren, die auf das freu­di­ge Er­eig­nis, die Ge­burt ih­res Kin­des, noch war­ten, ei­nen hilf­rei­chen Tipp ge­ben, wie die Paar­be­zie­hung von Ge­burt an ein­fühl­sam ge­stal­tet wer­den kann?

Kris­ti­na Pfis­ter: Es gibt ein sehr schö­nes Ri­tu­al, das Paa­re ei­ni­ge Wo­chen nach der Ge­burt ei­nes Kin­des ma­chen kön­nen. Die­ses Ri­tu­al ist wie das Amen des Zeu­gungs­ak­tes, wie ein Schlies­sen des Krei­ses, der mit der Zeu­gung be­gon­nen hat. Das Paar ver­ei­nigt sich und lässt al­les "se­xi­ge" da­bei weg. Er­re­gung und Lust wer­den be­wusst ver­mie­den oder klein ge­hal­ten. Das ist et­was sehr Un­ge­wohn­tes und viel­leicht ge­ra­de des­halb im­mens be­rüh­rend, weil die Stil­le der Schoss­ver­bin­dung die Herz­ver­bin­dung be­wuss­ter macht. Hier eine kur­ze Be­schrei­bung des Ri­tu­als: Es be­ginnt, in­dem sich bei­de im Bett ge­gen­über sit­zen oder lie­gen und Au­gen­kon­takt hal­ten oder auf sonst eine Wei­se zu in­ne­rer Ruhe kom­men. Durch Zärt­lich­kei­ten und Um­ar­mun­gen eine At­mo­sphä­re von Nähe und Ver­trau­en schaf­fen, so­dass sich bei­de weich und of­fen füh­len. Den Schei­den­ein­gang be­feuch­ten oder ein­ölen und den Pe­nis lang­sam und be­hut­sam in die Va­gi­na ein­füh­ren. In die­ser be­we­gungs­lo­sen Ver­ei­ni­gung ver­wei­len und Au­gen­kon­takt hal­ten. Sinn­bild­lich das Neu­ge­bo­re­ne in die Mit­te neh­men und den Weg von der Zeu­gung bis zum Jetzt nach­spü­ren. Es ist wie ein Ge­bet, um der Schöp­fung für die­ses Wun­der zu dan­ken. Auch der Dank der Frau an den Mann und der Dank des Man­nes an die Frau kann aus­ge­spro­chen wer­den. Dann löst sich das Paar wie­der.

Kon­takt­adres­se: Kris­ti­na Pfis­ter, Pra­xis für Se­xu­al­be­ra­tung/the­ra­pie, Win­ter­thur/Bül­ach, Büro: Gram­pen­weg 35, 8180 Bül­ach, Tel 01 860 04 85, www.se­xu­al-be­ra­tung.ch. In­for­ma­tio­nen zu Ta­ges­se­mi­na­ren für Frau­en (z.B.: „Lie­be ja, Sex nein?“) und sol­che für Män­ner (z.B.: „Mei­ne Frau hat fast nie Lust auf Sex“) fin­den Sie dort eben­falls.

Letzte Aktualisierung: 13.05.2020, BH