Binde dem armen Kind doch keinen Hasen auf!
Wie so viele Mütter mache auch ich mir immer mal wieder Vorwürfe, weil ich den Kindern das Märchen vom Osterhasen erzähle. Unsere grossen drei Kinder in der Sache anzulügen, war zwar nicht so schlimm, denn irgendwie schienen die drei schon von Anfang an zu ahnen, dass das alles erstunken und erlogen ist.
Beim Zweitjüngsten aber sieht die Sache etwas anders aus. Für ein Kind, das Tag für Tag in einer von Winnie the Pooh, Drachengefährlichermachern, Rittern, Snoopy und dem Riesen Goliath bevölkerten Welt lebt, ist der Osterhase kein Märchen, sondern eine willkommene Ergänzung für sein ohnehin schon sehr lebhaftes Fantasie-Universum. Wenn ich einem solchen Kind erklären muss, dass nur die Mama den Osterhasen sehen kann, weil er so früh am Morgen angehoppelt kommt, dann würde ich mir am liebsten die Zunge abbeissen. Wie kann man bloss so gemein sein, die Gutgläubigkeit eines Dreikäsehochs zu missbrauchen? Mir bricht es fast das Herz, wenn ich mir ausmale, dass der arme Kleine in nicht allzu ferner Zukunft wird erkennen müssen, dass ich ihm einen riesigen Bären – oder wohl eher einen Hasen - aufgebunden habe. Ich darf gar nicht daran denken, wie enttäuscht er dereinst sein wird, sonst fange ich gleich hier und jetzt an zu heulen.
Als ob meine eigenen Gewissensbisse nicht schon schlimm genug wären, musste ich vor einiger Zeit in einer Sonntagszeitung lesen, dass Eltern, die ihren Kindern vom Osterhasen erzählen, damit ernsthaft riskieren, ihren Nachwuchs zu verwirren. "Die Erwachsenen erlangen Macht und Kontrolle über das Kind, indem sie eine irreale Instanz erschaffen", stand da schwarz auf weiss. Mist! Was sind wir doch für miese, hinterhältige Eltern, die ihre armen Kinder so sehr verwirren, dass am Ende gar ihr Selbstvertrauen darunter leiden wird, wie ich in dem Artikel weiter las. Gut, der Artikel zitierte auch andere Stimmen, die behaupteten, das alles sei gar nicht so schlimm und die Kinder würden solche Geschichten ja so sehr lieben.
Aber als pflichtbewusste Mama weiss ich natürlich, auf welche Stimme ich zu hören habe und wie ich mich nach der Lektüre eines solchen Artikels zu verhalten habe: Ich streiche alle Passagen, die mir Vorwürfe machen, mit Leuchtstift an und lerne sie auswendig, auf dass ich sie nie wieder vergesse. Danach stelle ich mich vor den Spiegel, blicke mir fest in die Augen und sage mir hundert Mal vor, was für eine elende Lügnerin ich doch bin. Danach ziehe ich mich ins Büro zurück, um einen Sparplan zusammenzustellen, auf dass ich dereinst, wenn unser Sohn meinetwegen auf der Couch des Psychiaters landet, genug Geld auf der Seite habe, um die Kosten für die Therapie zu begleichen.
Zum Schluss begebe ich mich in die Küche, wo ich einen Schokoladenhasen verzehre. Denn eigentlich ist er ja Schuld an dem ganzen Schlamassel und darum hat er nichts anderes verdient, als aufgegessen zu werden.