"Es gilt, einen natürlichen Umgang mit digitalen Medien zu finden"
Interview mit Bo Reichlin
swissmom: Die Meinungen, ob und in welchem Umfang Vorschulkinder mit digitalen Medien in Berührung kommen sollen, gehen weit auseinander. Wie stehen Sie zu dieser Frage?
Bo Reichlin: Die meisten Kinder kommen ohnehin in Kontakt mit Medien, wenn die Geräte im Haushalt vorhanden sind. Medien - sowohl klassische als auch digitale - sind von Anfang an Teil ihres Lebens. Sie sehen, wie Erwachsene sie nutzen, hören spannende Geräusche und sehen faszinierende Bilder. Wann man ein Kind an die digitalen Medien heranführt, hängt von seinem Entwicklungsstand ab. Wenn es Interesse zeigt, kann es diese Welt Stück für Stück entdecken. Ich vergleiche es gerne mit dem Kochen. Wenn unsere Kinder Interesse daran zeigen, sage ich nicht: "Das dürft ihr nicht, das ist zu gefährlich", sondern ich erlaube ihnen, Gurken zu schneiden, lasse sie dabei aber nicht alleine. Es geht auch darum, etwas gemeinsam zu entdecken und Erfolge zu feiern. Bei den digitalen Medien ist die Gesellschaft skeptischer, aber eigentlich ist es das gleiche Prinzip.
Bo Reichlin ist Medien- und Kommunikationswissenschafterin, Dozentin in frühkindlicher Medienbildung an verschiedenen Berufsfachschulen sowie Mutter von drei Kindern. Als Initiantin von mediolino.ch unterstützt sie Kindergärten und Krippen bei der Umsetzung von Medienprojekten. Sie referiert an Elternabenden und ist als pädagogische ICT-Beraterin an der Schule Dietikon tätig.
swissmom: Kleine Kinder finden sich spielend leicht mit Smartphones und Tablets zurecht. Welche Chancen ergeben sich dadurch?
Bo Reichlin: Für die kindliche Entwicklung sind in erster Linie Primärerfahrungen, also das Entdecken mit allen Sinnen, wichtig. Wenn man aber die Geräte ohnehin schon herumliegen hat, sollen Kinder sie auch nutzen dürfen. Sinnvoll sind Inhalte, die direkt an die Lebenswelt der Kinder anknüpfen. Hat ein Kind beispielsweise das Theaterstück "Der Räuber Hotzenplotz" gesehen, könnte die gleichnamige App zur Geschichte diese Verknüpfung herstellen.
Lese-Apps und Spiele mit altersgerecht aufbereiteten Inhalten sind auch eine Wissensquelle, die darin vorkommenden Figuren dienen den Kindern als Vorbilder. Digitale Medien sind aber nur eine Ergänzung. Ein Kind kann zum Beispiel mit einer App spielerisch üben, wie eine Uhr funktioniert, es kann die Uhr aber auch auf anderem Weg entdecken, beispielsweise an der Zeitanzeige der Mikrowelle oder am Kirchturm.
swissmom: Gibt es auch Risiken, die Eltern beachten sollten?
Bo Reichlin: Für kleine Kinder ist das alles Neuland und es fällt ihnen schwer, das Gesehene richtig einzuordnen. Kinder brauchen die Unterstützung der Erwachsenen und dürfen nicht alleine gelassen werden mit den Inhalten. Eltern sollen sich überlegen, welche Massstäbe für sie bei der Auswahl einer App gelten. Wie sind die Erzählmuster? Sind die Strukturen für Kinder nachvollziehbar? Wie sind die Figuren dargestellt? Wie ist die Sprache? Ich empfehle, die Zeit zu investieren, solche Fragen zu klären und sich wirklich für die Medieninhalte zu interessieren, die den Kindern vermittelt werden.
swissmom: Viele Eltern erhoffen sich, dass pädagogisch wertvolle Apps dabei helfen, die Kinder zu fördern und auf die Schule vorzubereiten. Inwiefern sind diese Hoffnungen berechtigt?
Bo Reichlin: Ich bin ein wenig skeptisch, ob Kinder gezielt mit Medien lernen müssen. Das können sie auch mit ganz alltäglichen Dingen. Das Zählen zum Beispiel mit Steinen und die Farben mit Kleidungsstücken.
swissmom: Das Angebot in den App-Stores ist riesig. Wie picken Eltern die für ihre Kinder wertvollen Rosinen heraus?
Bo Reichlin: Wenn man nicht täglich auf diesem Gebiet arbeitet, ist es tatsächlich recht schwierig, sich zurechtzufinden. Die App-Datenbank des Deutschen Jugendinstituts ist ein sehr guter Startpunkt für Eltern, die sich mit dieser Welt vertraut machen wollen. Dort werden Apps nach medienpädagogischen Vorgaben auf viele verschiedene Aspekte hin geprüft, was eine ziemlich gute Hilfestellung bietet. Aber auch bei den dort vorgestellten Apps brauchen Kinder die Begleitung von Erwachsenen.
swissmom: Wie sieht Ihrer Meinung nach ein ausgewogener Umgang mit digitalen Medien im Vorschulalter aus?
Bo Reichlin: Minutenzahlen finde ich immer schwierig, denn es kommt sehr auf den Entwicklungsstand des Kindes an und auch darauf, wie es auf bestimmte Inhalte reagiert. Unser Vierjähriger zum Beispiel interessiert sich momentan sehr für das menschliche Skelett. Wir haben eine gute App zum Thema gefunden, nach fünf Minuten hatte er aber bereits genug davon. Eine Zeitgrenze von 15 Minuten wäre also zuviel gewesen für ihn.
swissmom: Wie können Eltern ihre kleinen Kinder diesen ausgewogenen Umgang lehren?
Bo Reichlin: Die eigene Medienkompetenz ist sehr wichtig. Eltern sollten sich überlegen, welchen Umgang sie selber mit Medien pflegen, denn das Kind lernt das, was es sieht. Genau wie bei anderen Erziehungsthemen sollten Eltern sich damit auseinandersetzen, welche Grundsätze gelten sollen, bevor sich das Kind fast ausschliesslich mit dem Tablet beschäftigen will.
swissmom: Wie begleiten Eltern ihre Kinder am besten beim Entdecken dieser riesigen, unbekannten Welt?
Bo Reichlin: Ganz wichtig ist die Anschlusskommunikation. Also Fragen beantworten, Verständnisprobleme klären und mit dem Kind darüber sprechen, warum es an einer Stelle erschrocken ist oder warum es etwas besonders lustig fand. Vielleicht liest man auch einmal die gleiche Geschichte aus dem Bilderbuch und aus der App vor und reflektiert dann gemeinsam mit dem Kind, was ihm besser gefallen hat und warum. Oder man zeichnet gemeinsam die lustigen Figuren, die vorkommen.
swissmom: Gibt es sonst noch Dinge, die Eltern ihren Kindern vermitteln sollten?
Bo Reichlin: Die Anwendungskenntnisse sind natürlich auch wichtig. Wie schalte ich das Gerät ein? Wie komme ich zu der richtigen App und wie nutze ich diese? Wie schalte ich das Gerät wieder aus? Es gilt, einen natürlichen Umgang mit digitalen Medien zu finden. Das Kind muss lernen, das Gerät auch wieder zur Seite zu legen und sich den anderen Dingen des Alltags zuzuwenden. Die digitalen Geräte gehören zu unserem Leben, es sollte aber nicht so sein, dass das Kind den ganzen Tag darauf hinfiebert, am Tablet zu spielen. Es gibt übrigens auch Kinder, die kein Interesse an digitalen Medien zeigen und das ist okay.