Kindlicher Spracherwerb im vierten Lebensjahr

Fantastische Geschichten, sprachliche Reisen in Vergangenheit und Zukunft - und unendlich viele Fragen

Kind und Vater vergnügen sich mit einem Buch
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Gastbeitrag von Michaela Davison

Während Sie sich vielleicht vor 18 Monaten noch fragten, wann Ihr Kind seine Bedürfnisse deutlich aussprechen kann, plappert es nun ununterbrochen, möchte, dass Sie alles erklären, was Sie tun und überhäuft Sie mit Fragen. Bedenken Sie nur, wie sehr sich Ihr Kind in so einer kurzen Zeit verändert hat — ein höchst beeindruckende Entwicklung!

Zuhören und selber erzählen


Ihr Kind wird nun gut in der Lage sein, seine Gefühle auszudrücken und mitzuteilen. Es kann dank seiner fortgeschrittenen Sprachentwicklung tiefgründiger über Dinge nachdenken und beginnt, die unwiderstehlichsten kleinen Geschichten aus seiner Sicht zu erzählen. Auch der Sinn für Humor bildet sich nun stärker aus. 

So können Sie Ihr Kind dabei fördern, seine erzählerischen Fähigkeiten weiter auszubauen und diese mit seinen Erlebnissen, Lieblingsbüchern und seiner lebhaften Fantasie zu verknüpfen:

  • Wählen Sie Lieblingsbücher und -geschichten Ihres Kindes aus und erzählen Sie diese gemeinsam nach. Geschichten mit Reimen oder einer sich regelmässig wiederholenden Phrase eignen sich besonders gut.

  • Schauen Sie auch mal Bilderbücher ohne Text an (z. B. "Gute Nacht, Gorilla!") und lassen Sie das Kind die Geschichte anhand der Bilder erzählen.

  • Reime prägen sich Ihrem Kind am besten ein. Bei uns zu Hause lieben wir die Bilderbuchgeschichten der britischen Autorin Julia Donaldson, z. B. "Stockmann", "Der Grüffelo", "Superwurm" etc.

  • Ermuntern Sie Ihr Kind regelmässig dazu, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Helfen Sie ihm beim Strukturieren seiner Geschichten auf die Sprünge.

  • Erstellen Sie eine Erzähl-Kiste: Legen Sie drei Objekte in eine Kiste (ein Foto einer Person, ein Objekt, das einen Ort repräsentiert wie z. B. ein Quietsche-Entchen sowie ein drittes beliebiges Objekt wie z. B. einen Flummi oder eine Gabel). Lassen Sie Ihr Kind mithilfe der Objekte eine Geschichte erfinden und erzählen. Machen Sie es zuerst vor, damit Ihr Kind weiss, wie es geht. 

  • Sie können auch ein Fotoalbum mit Dingen füllen, über die Sie mit Ihrem Kind gerne sprechen möchten. Neben Fotos eignen sich Tierbilder, ein Baumblatt, ein Busticket etc. Mithilfe des Albums können Sie nun über die Erlebnisse sprechen, die diese Dinge repräsentieren. 

Lügt unser Kind?

Im Alter von etwa drei Jahren beginnen Kinder, "Lügen" zu erzählen, sobald sie sich bewusst sind, dass ihre Bezugspersonen ihre Gedanken nicht lesen können. Sie tun dies aber nicht nur, wenn sie beispielsweise nicht zugeben wollen, die Schokolade gegessen zu haben (obwohl ihr Mund mit Schoggi verschmiert ist), sondern auch, weil sie so gerne Geschichten erzählen. Dann kann es beispielsweise vorkommen, dass sie zu einer wahren Geschichte noch einen Anhang erfinden. Dreijährige sind so sehr in ihrem magischen Spiel und in ihrer Fantasiewelt, dass sie beim Erzählen oft die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie verschwimmen lassen. Deshalb keine Sorge, dies ist ein ganz normaler Teil der Sprachentwicklung.

Die Grammatik entwickelt sich weiter


Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr erlebt ihr Kind einen weiteren Entwicklungsschub in der Grammatik:

  • Es versteht und gebraucht mehr Präpositionen (hinter, vor, neben, zwischen).

  • Es stellt vermehrt "Wann?"- und "Warum?"-Fragen.

  • Es verwendet Vergangenheitsformen wie "Er hat draussen gespielt" und lernt die unregelmässigen Vergangenheitsformen wie "Ich habe den Ball verloren".

  • Es lernt, von der Zukunft zu sprechen ("Ich komme in den Kindergarten") und grammatische Zukunftsformen zu verwenden ("Ich werde mich als Pirat verkleiden").

  • Es verwendet vermehrt Possessiva wie sein und ihr: "Das ist sein Garten". Dasselbe gilt für Objektpronomen wie ihn oder sie: "Lass sie doch mitspielen." 

Tipps, wie Sie Ihr Kind dazu ermuntern können, von Vergangenheit und Zukunft zu erzählen: 

  • Fragen Sie zum Beispiel nach dem Zähneputzen: "Was ist passiert?" "Was hast du gemacht?"

  • Erzählen Sie Geschichten aus Ihrer Kindheit. Die meisten Kinder lieben das!

  • Stellen Sie Fragen zu gemeinsamen Plänen: "Was machen wir heute?" Oder: "Was machen wir in den Ferien?"

  • Reden Sie vor dem Schlafengehen über den nächsten Tag: "Lass uns besprechen, was wir morgen tun. Am Morgen gehen wir ein Geschenk für Lisa kaufen, danach essen wir zu Hause zu Mittag und am Nachmittag gehen wir zu Lisas Geburtstagsparty." 

Tipps, wie Sie Ihr Kind dazu ermuntern können, Fragen zu stellen: 

  • Schauen Sie sich Fotos von gemeinsamen Erlebnissen an und fragen Sie: "Wo waren wir da?", "Was haben wir danach gemacht?", "Worüber lachen wir auf dem Bild?", "Wo war Papi?"

  • Schicken Sie Ihr Kind mit einem Auftrag zu Geschwistern oder zu Ihrem Partner: "Frag Papi, wo das Waschpulver ist". 

Emotionale Konzepte: "Ich fühle mich ..."


Für eine gesunde emotionale Entwicklung ist es sehr wichtig, dass Kinder die richtigen Worte haben, um ihre Gefühle auszudrücken. Zwar lernt ein dreijähriges Kind gerade erst, was ein „Gefühl“ überhaupt bedeutet, und doch erlebt es tagtäglich eine grosse Bandbreite unterschiedlichster Emotionen, was verständlicherweise sehr überfordernd sein kann. Auch die Impulskontrolle befindet sich entwicklungsmässig noch in den Kinderschuhen. Indem Sie Ihrem Kind die richtigen Worte mitgeben, helfen Sie ihm, seine Gefühle zu verstehen und Empathie zu entwickeln.

  • Beim gemeinsamen Spiel können Sie mit der Puppe oder mit dem Teddy Emotionen gut nachstellen. Der Teddy fällt um und ist traurig oder die Puppe ist wütend, weil sie nicht ins Schwimmbad darf.

  • Machen Sie gemeinsam übertriebene Gesichter zu verschiedenen Emotionen und benennen Sie diese. Dies geht auch gut vor dem Spiegel.

  • Wenn Sie gemeinsam ein Buch oder einen Film anschauen, beobachten Sie die Figuren und sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, was deren Gesichtsausdruck und Körperhaltung über ihre momentanen Gefühle aussagen.

Spiel mit der Sprache

Während Sie bislang über die süssen kleinen Versprecher Ihres Kindes geschmunzelt haben, kann es Sie nun mit eigenen kleinen Scherzen zum Lachen bringen. Sinn für Humor und Wortwitz beginnen, sich auszuprägen. Das zeugt davon, dass Ihr Kind die abstrakten Feinheiten der Sprache zunehmend besser verstehen kann.

Was Ihr Kind mit vier Jahren schon alles kann


Kinder entwickeln sich sprachlich unterschiedlich, aber bis zum Ende des vierten Lebensjahres wird Ihr Kind in der Regel:

  • längeren Geschichten lauschen und einfache Fragen dazu beantworten.

  • Farben, Zahlen und zeitbezeichnende Wörter verstehen und anwenden.

  • Fragen zu etwas beantworten, das in der Vergangenheit geschehen ist. 

  • längere Sätze bilden und Sätze verbinden.

  • von Ereignissen in der Vergangenheit erzählen.

  • einfache Scherze verstehen und selbst Scherze machen.

  • viele Fragen stellen und dabei alle Fragewörter verwenden.

  • noch einige Fehler mit Zeitformen machen: "gerennt" statt "gerannt" oder "geschwimmt" statt "geschwommen".

  • noch etwas Schwierigkeiten mit einzelnen Lauten haben (zum Beispiel "r", "l", "f" oder "sch").

  • beginnen, sich Spiele mit anderen auszudenken (Rollenspiele).

Zur Person

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Michaela Davison ist Lektorin und Mutter dreier Kinder. Sie wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich. Zwar liest sie gern die Texte anderer, schreibt selbst aber auch leidenschaftlich gerne. Vor allem übers Elternsein. Weitere Infos unter Leselupe.ch

Letzte Aktualisierung: 02.05.2022, Michaela Davison, TV