Warum Mütter nicht die Wahrheit sagen

Mutter mit Baby und Schwangere im Gespräch
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Da liegt sie nun also, schweissgebadet und erschöpft. Kaum hat sie sich ein wenig gesammelt, bohrt sich schon wieder dieser schier unerträgliche Schmerz in ihren Leib. Sie schreit, keucht, schimpft und zetert, aber das alles hilft nichts, denn sie weiss genau, dass sie hier durch muss. Irgendwann, zwischen zwei besonders heftigen Wehen, bricht es aus ihr heraus: "Warum hat mir keine dieser Mütter gesagt, wie abscheulich diese Schmerzen sind? Warum haben sie mir bloss ihre pausbackigen Engel in den Arm gedrückt und in den höchsten Tönen vom Wunder der Geburt geschwärmt? Warum nur habe ich mich dazu verleiten lassen, mir das anzutun? Ich will hier raus und zwar sofort!" Aber bevor sie noch die Flucht ergreifen kann, bricht schon die nächste Wehe über sie herein und sie klammert sich verzweifelt an den Mann, der zwar viel dazu beigetragen hat, dass sie diese höllischen Schmerzen durchstehen muss, nun aber herzlich wenig tun kann, damit es ihr besser geht.

Ja, warum warnen wir, die wir das Ganze schon durchgemacht haben, unsere Freundinnen, Schwestern, Schwägerinnen und Arbeitskolleginnen nicht vor dem, was da auf sie zukommt? Ist es die Furcht, die Menschheit wäre innert kürzester Zeit vom Aussterben bedroht, wenn wir offen und ehrlich davon berichten, wie sehr wir an die Grenzen unserer Kräfte gekommen sind?

Vielleicht wollen wir auch nicht einer werdenden Mutter, die dem Gebären ohnehin schon mit Zittern und Bangen entgegensieht, noch mehr Angst einjagen. Einem, der panische Furcht vor dem Zahnarzt hat, schildern wir ja auch nicht unsere letzte Wurzelbehandlung im Detail. Wo er doch schon schlaflose Nächte hat, weil er nächste Woche bei der Dentalhygienikerin antraben muss. Bedienen wir uns am Ende gar der Notlüge, um liebe Menschen vor der schmerzhaften Wahrheit zu schützen? 

Oder liegt der Grund für unser Schweigen in unserer mangelhaften Erzählkunst? Fehlen uns schlicht die Worte, um zu beschreiben, was wir uns selber im Voraus nie hätten vorstellen können? Nun, daran ist vielleicht tatsächlich etwas dran, denn eine Frau müsste tatsächlich eine grosse Wortkünstlerin sein, um den Wehenschmerz treffend in Worte zu fassen. 

Man könnte auch denken, wir Mütter würden schweigen, weil uns unser Benehmen im Gebärsaal peinlich ist. Im Moment des schlimmsten Schmerzes vergisst - zum Glück - auch die Sanftmütigste ihr gutes Benehmen. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie später, wenn das alles hinter ihr liegt, im Detail davon erzählen will, wie sie der Hebamme Schimpfwörter, die vorher noch nie über ihre Lippen gekommen sind, an den Kopf geworfen hat. 

Tja, und dann besteht da natürlich noch der Verdacht, einige von uns könnten sich nicht eingestehen, dass das mystische Erlebnis der Geburt, das uns mit Mutter Natur in Einklang bringen soll, weitaus schmerzhafter war, als manche uns das glauben machen. Klar wurden unter der Geburt nie geahnte Kräfte freigesetzt. Klar haben wir darüber gestaunt, wozu wir in der Lage sind. Klar war am Ende unsere Ehrfurcht darüber, dass uns der Schmerz zu einer noch nie zuvor erlebten Freude verholfen hat, nahezu grenzenlos. Dennoch hätte so manche von uns der gütigen Mutter Natur, die uns das alles angetan hat, ganz gerne eine reingehauen, als schon wieder eine dieser unausstehlichen Wehen über uns hereinbrach. Aber darf man so etwas laut sagen? Besser nicht, denn sonst könnte das sorgsam gepflegte Idealbild einen Kratzer bekommen. 

Dies alles mag dazu beitragen, dass wir andere Frauen nicht eindringlich vor dem warnen, was ihnen bevorsteht. Der Hauptgrund ist aber ein anderer: Ist das Ganze erst einmal durchgestanden, ist die Erinnerung an den Schmerz wie weggeblasen. Gut, bei Frauen, die das mehrmals durchgemacht haben, dienen die Nachwehen noch ein paar Tage lang als Gedankgenstütze, doch wenn auch das vorbei ist, können wir uns beim besten Willen nicht mehr erinnern. Unser Kopf weiss zwar, dass da etwas war, vielleicht schmerzt auch noch die Dammnaht und manche Frauen brauchen Zeit, das Erlebte zu verarbeiten, aber etwas in uns weigert sich standhaft, den Wehenschmerz noch einmal nachzuempfinden. Dieses selige Vergessen ist eines der vielen Wunder der Geburt. 

Darum hört man viele von uns nur wenige Stunden nach dem grossen Ereignis felsenfest behaupten: "Es hat schon weh getan, aber soooo schlimm war es nun auch wieder nicht. Ich denke, wir Frauen sind halt einfach dazu gemacht, das irgendwie durchzustehen." Darum tun sich viele von uns das Ganze ein zweites Mal an, manche sogar ein drittes, viertes, fünftes oder sechstes Mal. Darum wird auch sie, die heute noch keuchend und stöhnend im Gebärsaal liegt morgen mit ihrem Baby im Arm ihre ersten Besucher empfangen und selig lächelnd irgend etwas von einem "unglaublich schönen Geburtserlebnis" brabbeln.

Und seien wir ehrlich: Auch wenn sie mit drastischen Worten schildern würde, wie sie sich unter der Geburt gefühlt hat, sämtliche Besucherinnen im gebärfähigen Alter würden dennoch verzückt auf das Neugeborene starren und flüstern: "Ich will auch so eins." 

Letzte Aktualisierung: 30.09.2019, TV