One-Woman-Show

Erwachsene hilft Kind sich auszuziehen

Morgens um sieben betritt sie  die grosse Bühne des Familientheaters. Für ein paar Momente wird sie die Rolle der Verschlafenen spielen, doch schon wenige Minuten später wird die Verschlafene verdrängt von der Hellwachen, die den drei grösseren Kindern zu einem fröhlichen Start in den Tag verhilft, und sei der Himmel noch so grau.

Während die Verschlafene und die Hellwache jeden Tag ihren Auftritt haben, ist alles, was danach folgt, reine Improvisation und zwar auf höchstem Niveau. Aus der Trösterin, die der Tochter versichert, dass sie wunderschön ist, auch wenn sie ausnahmsweise rote statt weisse Strumpfhosen trägt, wird blitzschnell die Schiedsrichterin, die dafür sorgt, dass die Brüder sich ohne Blutvergiessen darüber einigen, wer wo am Frühstückstisch sitzt. Als Prokuristin sitzt sie nur Momente später am Tisch und unterschreibt geschäftsmässig die Lernzielkontrollen, die ihr vorgelegt werden, dann wieder ist sie als Kammerzofe auf Trab, um für die saubere Kleidung der Herrschaften zu sorgen. Um auch noch dem morgenmuffeligen Dritten zu einem sonnigen Tagesstart zu verhelfen, mutiert sie mal ganz kurz zur Minnesängerin, worauf sie als Einpeitscherin dafür sorgt, dass die beiden Grossen nicht zu spät zur Schule kommen.

So nimmt das Familientheater seinen Lauf, zwei bis vier Kostümwechsel inbegriffen. Geht sie einkaufen, rangeln die Geizige und die Grosszügige um die Aufmerksamkeit auf der Bühne. Paradoxerweise gibt die Grosszügige meist dann ihre beste Vorstellung, wenn das Budget am knappsten ist. Läutet das Telefon, geht wahlweise die verständnisvolle Freundin, die knallharte Neinsagerin, die jeden Telefonverkäufer das Fürchten lehrt, die Professionelle, die einen Brand bei der Arbeitsstelle löschen muss, oder die schnippische Lehrersgattin, die ihren Gemahl vor Zusatzarbeit schützt, an den Apparat. Wobei die Rolle der Telefonistin ihre besonderen Tücken hat, muss sie doch immer auch gleichzeitig die strenge Erzieherin sein, die verhindert, dass das Haus während des Telefonats in Schutt und Asche gelegt wird. Beim Mittagessen wird dann von den Kindern oft die Komödiantin verlangt. Je nach Tagesform schafft es diese, dass die Kinder vor Lachen unter dem Tisch liegen. Manchmal aber zaubert sie den Kleinen bloss ein müdes Lächeln aufs Gesicht. Abends dann, wenn die Kinder im Bett sind, wäre die Leidenschaftliche gefragt, die Unterhaltsame, die lebhafte Gesprächspartnerin. Doch leider bringt sie es nicht immer fertig, ihr Publikum zu begeistern. So sie es denn überhaupt auf die Bühne schafft.

Im Familientheater wird es ihr nie langweilig und es gibt durchaus Tage, an denen die Rollenwechsel reibungslos klappen und das Ganze ihr unglaublichen Spass bereitet. An anderen Tagen geht es nicht so glatt und dann steht plötzlich die Zornige auf der Bühne, wo eigentlich die Einfühlsame gefragt wäre. Oder die Übermüdete sinkt zu einem Mittagsschläfchen aufs Sofa, obschon doch die besonders Wachsame gerade ihren Auftritt haben sollte. Und manchmal lässt es sich nicht verhindern, dass diejenigen, die erst viel viel später, so in zwei drei Jahren, dran wären, hinter Vorhang hervorlugen. Die Sehnsüchtige, die Eigensinnige und die Träumerin schaffen es immer wieder, die Vorführung mit ihren unbedachten Auftritten zu stören und alles aus der Bahn zu werfen. An gewissen Tagen drängt sich auch die Verzweifelte ins Rampenlicht, was meistens zu Tränen führt. Des langen Wartens müde, ist die Erfolgreiche im Begriff, sich aus der Show zu stehlen und die Regie muss aufpassen, dass nicht irgendwann die frustrierte Hausfrau die Hauptrolle an sich reisst.

Ja, die Regie. Die macht es ihr nicht immer einfach. Allein schon, herauszufinden, wer gerade auf dem Regiestuhl sitzt, ist zuweilen fast unmöglich. Sind es die Kinder, ist es der Partner, ist es der Terminplan, ist es der Telefonverkäufer, ist es das Wetter, ist es die Schulleitung, ist es der leere Kühlschrank?  Oder gar alle miteinander?
Manchmal wäre es hilfreich, sie könnte mal Einblick ins Drehbuch erlangen, um herauszufinden, was das Ganze überhaupt soll. Sie könnte dann ihre verschiedenen Rollen mit viel mehr Überzeugung spielen. Es würde ihr auch leichter fallen, unpassende Rollen zu verweigern, oder vielleicht sogar die eine oder andere Korrektur am Drehbuch vorzunehmen. Doch meistens dreht sich das Karussell der Rollen so schnell, dass sie schon dankbar ist, wenn hin und wieder der Vorhang fällt und sie Zeit hat für eine Tasse Tee. Damit sie wieder gestärkt ist für den nächsten Akt.

Eine kleine Bemerkung zum Schluss: Die Hauptfigur in diesem Stück muss nicht zwingend eine Frau sein. Auch Anzahl und Charakter der Statisten, zu spielende Rollen sowie die Kulisse sind an jedem Ort ein wenig anders. Eines aber bleibt sich überall gleich: Die Person, welche die Hauptrolle spielt, braucht Nerven wie Drahtseile.  

Letzte Aktualisierung: 04.07.2016, TV