Sie will doch bloss ihr Herz ausschütten

Spaziergang mit Kinderwagen
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Ich hab's mal wieder total vergeigt. Da treffe ich beim Einkaufen eine andere Mutter und - zack! - stecke ich mitten in einem Erziehungsberatungsgespräch, weil die Gute aus unerfindlichen Gründen glaubt, ich sei auf diesem Gebiet so etwas wie eine Autorität. 

"Wenn ich doch nur endlich wieder mal eine ganze Nacht am Stück durchschlafen könnte", eröffnet sie das Gespräch und ehe ich noch eine mitfühlende Bemerkung einschieben könnte, fährt sie fort: "Unsere Kleine schläft so furchtbar schlecht. Hast du mir vielleicht einen Tipp, was ich tun könnte?"

"Tja, weisst du, ich erteile nicht so gerne Ratschläge. Jedes Kind ist anders, jede Familie ist anders...", versuche ich mich herauszuwinden, denn nach einigen Jahren Erziehungserfahrung weiss ich nur eine Sache mit absoluter Sicherheit: Es gibt keine Patentrezepte mit Gelinggarantie. Doch meine Gesprächspartnerin insistiert und so beginne ich eben, in meinen Erinnerungen zu kramen, um zu sehen, ob sich daraus vielleicht ein brauchbarer Tipp ableiten lässt.

"Nun, ich habe die Erfahrung gemacht, dass manche Kinder nachts ein grosses Bedürfnis nach elterlicher Nähe haben. Vielleicht würde es helfen, wenn sie bei euch im Zimmer schla..." 

Weiter komme ich nicht, denn meine Gesprächspartnerin unterbricht mich: "Auf gar keinen Fall. Mein Mann hat einen derart leichten Schlaf, der würde das nicht aushalten." 

"Und wie wär's wenn ihr eine Matratze ins Kinderzimmer legt, damit einer von euch bei ihr sein kann, wenn sie nicht zur Ruhe findet?", frage ich vorsichtig.

"Das haben wir mal eine Nacht lang probiert. Aber mein Rücken macht das nicht mit," kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. 

"Frische Luft vor dem Schlafengehen wäre sonst auch noch eine Möglichkeit..."

"Na ja, vielleicht... Aber weisst du, sie ist so ein Gfrörli. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das mag."

Allmählich wird mir die Sache ein wenig unangenehm. Die arme, übermüdete Mama erwartet von mir, der Mehrfachmutter, den Tipp, der ihr Leben wieder ins Lot bringt, doch alles, was ich zu bieten habe, sind Binsenwahrheiten. Also versuche ich, mich ein wenig ins Zeug zu legen. Immerhin steht meine Mutterehre auf dem Spiel. "Unsere Tochter bekam jeweils zwei Stunden vor dem Schlafengehen einen beruhigenden Tee. Melisse, zum Beispiel, oder Orangenblüten", erzähle ich. "Meine Kleine hasst Tee", antwortet meine Gesprächspartnerin fast schon ein wenig gereizt.

Um sie wieder milder zu stimmen, durchwühle ich in Gedanken ein weiteres Mal meinen Erfahrungsschatz, in der Hoffnung, vielleicht doch noch den ultimativen Tipp zutage zu fördern. "Unser Jüngster schlief in seiner Hängematte wie ein Bär im Winterschlaf. Das wäre vielleicht eine Lösung. Oder ist deine Tochter dafür bereits zu gross?", unternehme ich einen letzten Anlauf, aber damit mache ich mich vollends lächerlich, denn natürlich ist so ein schaukelndes Ding viel zu gefährlich für die kleine Prinzessin. So langsam fragt sich meine Gesprächspartnerin wohl, ob ich überhaupt etwas Brauchbares zu sagen weiss. 

Nun, einen einzigen Ratschlag hätte ich noch in petto, doch den behalte ich lieber für mich. Die Schlafprobleme unserer Tochter hatten nämlich erst dann ein Ende, als wir uns ein viertes Kind zulegten. Ob die erschöpfte Mama dank diesem Tipp wieder neuen Mut fassen würde? Wohl kaum. Also bringe ich das Gespräch mit ein paar tröstenden Floskeln im Stil von "Du wirst sehen, das gibt sich irgendwann schon wieder" zu Ende. 

Als unsere Wege sich trennen, bin ich erst einmal ziemlich verärgert. Warum bittet sie mich um Rat, wenn sie dann doch alles in den Wind schlägt, was ich sage? Habe ich denn wirklich nichts Besseres zu tun? Erst viel später dämmert mir, was ich falsch gemacht habe: Entgegen meiner Überzeugung habe ich mich dazu hinreissen lassen, ihr Ratschläge zu erteilen. Dabei hätte ich doch wissen müssen, dass sie so etwas nicht brauchen kann, wenn sie vor lauter Schlaflosigkeit weder ein noch aus weiss. Alles, was sie gebraucht hätte, wäre das offene Ohr einer mitfühlenden Zuhörerin, die versteht, was sie gerade durchmacht.

Sollte ich mich je wieder in einer ähnlichen Situation befinden, weiss ich jetzt, was ich zu sagen habe: "Heul dich ruhig bei mir aus, ich weiss, wie sich das anfühlt. Jammern löst zwar keine Probleme, aber vielleicht siehst du wieder etwas klarer, wenn du deinen Frust abgeladen hast. Doch erwarte bloss keine Ratschläge von mir, denn was bei meinem Kind funktioniert, wird bei deinem vermutlich nicht wirken. Im Leben mit Kindern gibt es nun mal keine Patentrezepte."

Und dann kann sie sich von mir aus alles von der Seele reden, bis ihr wieder leichter ums Herz ist.

Letzte Aktualisierung: 02.02.2018, TV