Ich war das nicht!

Kind mit Sonnenbrille
©
Fotolia

Bei Marktforschungsumfragen wird man jeweils gefragt: "Wie viele Personen (Sie eingeschlossen) leben insgesamt in Ihrem Haushalt?" Ich tippe dann jeweils automatisch eine Sieben ins Antwortfeld, aber eigentlich ist das gelogen. Wir sind nämlich acht. Da sind mein Mann und ich, die fünf Kinder und dann ist da noch "der andere".

Ihr wisst schon, dieser Kerl, der immer dann zuschlägt, wenn keiner hinschaut. Unglaublich, was der so alles anstellt. "Der andere" macht sich hinter die Süssigkeiten in meinem Kleiderschrank, die ich für den Osterhasen habe einkaufen müssen, weil der ja zu faul ist, das selber zu machen.  Er legt das schmutzige Buttermesser zurück in die Besteckschublade. Vergreift sich an den Portemonnaies unserer Kinder (und vielleicht manchmal auch an meinem). Schraubt ohne erkenntlichen Grund den Siphon ab. Lässt Bananenschalen auf dem Teppich liegen. Klaut mir meine Kaugummis aus der Handtasche. Benutzt mein Make-up und erfrecht sich dann noch, den Deckel nicht mehr aufzusetzen. Wirft Kleider und Spielsachen unserer Kinder aus dem Fenster. Stellt das leere Erdnussbutterglas zurück ins Regal. Steckt Zahnstocher zwischen die Klaviertasten. Schneidet Löcher in Lieblingspullover. Bekritzelt Papas Kunstwerke mit wasserfestem Stift. Bringt Fussbällen im Gartenteich das Schwimmen bei. Isst alle Kirschen alleine auf. Alle, bis auf die Verfaulte, die lässt er liegen. Schlägt Fensterscheiben ein. Schmuggelt unseren Kindern schmutziges Geschirr und Schokoladenpapier ins Zimmer. Klettert aufs Garagendach und lässt dort Papas Bohrmaschine liegen. Vergisst, die Tür der Voliere zu schliessen. Lässt in der Waschküche andauernd das Licht brennen, zuweilen auch über Nacht.  Stöckelt mit meinen Schuhen in der Wohnung rum und lässt sie dann in einem entlegenen Winkel liegen, so dass ich sie immer erst dann finde, wenn der Anlass für High-Heels schon vorbei ist. 

Wenn ich es mir so ansehe, dieses beträchtliche und dennoch unvollständige Sündenregister, muss ich zugeben, dass "der andere" durchaus einfallsreich ist. Nur äusserst selten tut er exakt die gleiche Sache zweimal und sollte er sich doch mal zu einer Wiederholungstat hinreissen lassen, dann würzt er diese mit originellen Variationen, die uns Erwachsene in Staunen versetzen. Okay, das Staunen kommt meistens erst im Nachhinein, wenn sich die grosse Wut wieder gelegt hat und wir mit kühlem Kopf betrachten können, was der Fiesling wieder angerichtet hat. Zuerst einmal presse ich ein grimmiges "Wenn ich 'den andern' endlich zu fassen kriege, kann er was erleben" zwischen den Zähnen hervor und übe mich in Schadensbegrenzung.

Später aber, wenn wir mit Freunden gemütlich beim Kaffee sitzen, erzählen wir lachend, was er wieder alles ausgefressen hat, "der andere" und dann erfahren wir Erstaunliches: Der Kerl treibt sein Unwesen nicht nur bei uns, auch in anderen Familien mischt er tatkräftig mit. Sogar Eltern, die ein einziges Kind haben, wissen von seinen Freveltaten zu berichten und neulich, als ich meinem Vater vom "anderen" erzählte, seufzte er tief. "Glaub mir, den kenne ich nur zu gut", sagte er. "Das Schlimmste an ihm ist: Ich habe ihn bis heute nicht zu fassen gekriegt. Folglich weiss ich noch immer nicht, wer damals..." Dann erzählte er mir diese haarsträubende Geschichte aus Kindertagen, die ich stets einem meiner Brüder zugeschrieben hatte. Aber dieser Bruder streitet die Sache bis zum heutigen Tage ab und sagt, es sei "der andere" gewesen. 

Man sieht, die Chancen, den Missetäter je zu Gesicht zu kriegen, sind gering, also lasse ich es wohl besser bleiben, ihn bei der nächsten Marktforschungsumfrage als achtes Familienmitglied aufzuführen. Es würde mir doch keiner glauben, dass er existiert. Zudem weiss ich streng genommen nicht mal, ob "der andere" ein Er oder eine Sie ist und wann er das Licht der Welt erblickt hat und solche Sachen wollen sie ja immer ganz genau wissen bei solchen Umfragen. 

Letzte Aktualisierung: 04.07.2016, TV