Die Grenzen von Attachment Parenting
Die meisten Grundlagen des Attachment Parenting (AP) erscheinen nur uns in der westlichen Welt als fremd, in anderen Kulturen werden sie ganz selbstverständlich gelebt und auch bei uns waren sie früher gang und gäbe.
So ist zum Beispiel das Langzeitstillen vielenorts alltäglich, während sich hierzulande eine Mutter schon schräge Blicke und kritische Fragen gefallen lassen muss, wenn sie ihr Einjähriges noch gelegentlich stillt. Eine unüberlegte Ablehnung dieses Lebensstils ist also ebenso wenig angebracht wie die Haltung, dass AP der einzig richtige Weg sei. Wer sich für Attachment Parenting entscheidet, sollte die folgenden Punkte nicht ausser Acht lassen:
Burnout: Manche Mütter verstehen AP so, dass sie jedes Bedürfnis ihres Babys umgehend stillen müssen und dass sie es nie einer andere Bezugsperson überlassen dürfen. Ihre eigenen Bedürfnisse stellen sie fast bis zur Selbstaufgabe hintan, obschon AP-Autoren wie zum Beispiel William und Martha Sears ausdrücklich davor warnen. Über kurz oder lang führt eine solche Haltung zu Erschöpfung und Burnout. Den eigenen Bedürfnissen Beachtung zu schenken und das Baby auch mal dem Vater zu überlassen, ist in diesem Erziehungsstil besonders wichtig, denn nur eine ausgeglichene Mutter kann dem Baby auch die zum Attachment Parentig gehörende Zuwendung geben.
Keine Gelinggarantie: Die Literatur zum Thema erweckt zuweilen den Eindruck, je mehr die Eltern in der Baby- und Kleinkindphase investierten, umso mehr würden sie später zurückbekommen. Dies mag sich im Alltag wohl immer wieder bewahrheiten, kann aber auch zu bitterer Enttäuschung führen, wenn Erwartungen und Realität auseinander klaffen.
Kein allgemein gültiges Patentrezept: Die meisten Babys lieben es, viel getragen zu werden, aber nicht alle. Die meisten wollen die Nähe der Eltern auch nachts spüren, einige schlafen aber schon sehr früh gerne und gut im eigenen Bettchen. AP lässt sich also nicht wie ein starres Programm anwenden, sondern sollte den Bedürfnissen angepasst werden, die das Baby signalisiert.
Grosse Versprechungen: Aussagen wie "AP Babys sind gesünder", "AP Babys haben bessere Chancen, klüger zu werden", "AP Babys zeigen verbesserte motorische Entwicklung" oder "AP Kinder trotzen weniger" sind in der Literatur immer wieder zu lesen. Die Autoren betonen, wenn auf die Bedürfnisse des Babys eingegangen werde, würden die Eltern mit einem gut gedeihenden, zufriedenen Kind belohnt. Da könnte man sich leicht als Versager fühlen, wenn das Kind trotzdem quengelt oder in der motorischen Entwicklung zurückbleibt.
Ausschliessliches Stillen im ersten Lebensjahr: Zwar raten auch die meisten AP-Autoren davon ab, dennoch verzichten manche "verbundenen" Mütter im ersten Lebensjahr gänzlich auf die Einführung von Beikost. Zwar liefert die Muttermilch auch nach dem sechsten Lebensmonat noch immer viele wertvolle Inhaltsstoffe, sodass nichts gegen längeres Stillen spricht. Für den Aufbau von Knochen, Zähnen und Muskulatur sowie für die Zellentwicklung braucht es jedoch zusätzliche Nährstoffe. Eine schrittweise Einführung von Beikost zwischen dem fünften und siebten Lebensmonat ist darum wichtig.
Das Ziel ist entscheidend: AP soll dazu dienen, eine enge, tragfähige Bindung zum Kind aufzubauen, damit es später, wenn es dazu reif ist, eigenständig und unabhängig sein kann. Werden Tragen, Langzeitstillen, Schlafen im Elternbett, etc. aber auch dann weitergeführt, wenn das Kind signalisiert, dass es dies nicht mehr braucht und will, werden wichtige Ablösungsschritte verhindert.
Auch für Mama (Papa und Geschwister) muss es stimmen: Fühlt sich eine Mutter z. B. mit dem Langzeitstillen nicht mehr wohl, müssen andere Wege gefunden werden, um dem Kind Nähe und Sicherheit zu bieten. Sehen die Geschwister sich mit der Zeit vernachlässigt, drängt sich die Frage auf, ob vielleicht das jüngste Familienmitglied überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommt. Dies gilt natürlich nicht für die ersten Monate, in denen das Baby voll und ganz auf die liebevolle Zuwendung anderer angewiesen ist. AP hat nicht zum Ziel, das Kind zum König zu machen. Falls dies doch geschieht, haben die Eltern vermutlich die Sache falsch verstanden.
Grenzen gehören dazu: Attachment Parenting bedeutet nicht, dass dem Kind alles erlaubt ist und ihm keine Grenzen gesetzt werden. Ziel ist vielmehr, eine sichere, vertrauensvolle Bindung aufzubauen, so dass Grenzen nicht mit fragwürdigen Disziplinierungsmassnahmen durchgesetzt werden müssen.
Kein schlechtes Gewissen: AP verlangt den Eltern grossen Einsatz ab. Zudem entscheiden sich meistens die Menschen für diesen Lebensstil, die ihre Aufgabe als Eltern sehr ernst nehmen. Es besteht also eine gewisse Gefahr, dass AP-Eltern alles richtig machen wollen, sich Vorwürfe machen, wenn sie mal nicht so liebevoll reagiert haben, wie sie das eigentlich möchten oder sich verantwortlich fühlen für Probleme, mit denen ihr Kind zu kämpfen hat. Diese Eltern sollten sich in Erinnerung rufen, dass auch jemand, der sich liebevoll um sein Baby kümmert, mal einen schlechten Tag hat. Kinder, die sich geliebt wissen, kommen ganz gut klar damit, wenn nicht immer alles so rund läuft wie im Erziehungsratgeber.
Kritisch, aber nicht überkritisch: Wer sich intensiv mit AP auseinandersetzt, befasst sich früher oder später auch mit der Frage, ob Kinderkrippen und Volksschule den eigenen Idealen gerecht werden. Manche Familien suchen deshalb nach Alternativen, zum Beispiel in der Kinderbetreuung durch eine Tagesmutter oder den gänzlichen Verzicht auf Fremdbetreuung, im Besuch einer Privatschule oder im Homeschooling. Ein kritisches Hinterfragen der allgemein akzeptierten Strukturen liefert wertvolle Impulse in Erziehungs- und Schulfragen und kann positive gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Problematisch wird es allerdings, wenn Eltern sich auf lange Sicht als die einzigen geeigneten Bezugspersonen sehen und versuchen, ihre Kinder "vor der bösen Welt da draussen" zu schützen.