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                              Die Wiegestube - ein Ort der Geborgenheit für Eltern und Kinder

                              Interview mit Maria Luisa Nüesch

                              Baby liegt auf dem Bauch, streckt Hände und Beine in die Luft
                              ©
                              iStock

                              swissmom: In Grabs bietet der Verein "Spielraum-Lebensraum" sogenannte Wiegestuben für Eltern und kleine Kinder an. Was ist eine Wiegestube?  

                              Maria Luisa Nüesch: Eine Wiegestube ist eine Eltern-Kind-Gruppe, die eigentlich für die Mütter da ist, denn die ganz kleinen Kinder brauchen noch keine Gruppe. Sie geniessen sie aber trotzdem, wenn sie sich darin sicher und geborgen fühlen. Es kommen auch Väter, mehrheitlich aber Mütter. Sie treffen auf einen  Raum von Wärme, von Aufgenommensein. Es ist auch eine Elternschule und zwar eine, die nicht über den Kopf geht, sondern über die Anschauung. Weil dies explizit "Räume der Ruhe" sind, wo man sich zurücknimmt und beobachtet, erleben viele Eltern hier zum ersten Mal, dass ihre Kinder ganz alleine spielen. 

                              Zur Person

                              Maria Luisa Nuesch 01

                              Maria Luisa Nüesch interessierte sich bereits als junge Kindergärtnerin für das freie Spiel, die Elternarbeit und die Wirkung der Medien. Während fünf Jahren liess sie sich in England zur Eurythmistin ausbilden. In den Wiegestuben des Vereins "Spielraum-Lebensraum" wird ihre Vision von Räumen der Geborgenheit, in denen kleine Kinder und ihre Eltern zur Ruhe und zu sich selbst finden, umgesetzt. Spielgruppe, Halbtagskrippe und Sandbank ergänzen das Angebot. Maria Luisa Nüesch ist Autorin der Bücher "Spiel aus der Tiefe" und "Begleitungskunst in Eltern-Kind-Gruppen".

                              swissmom: Die Kinder werden hier also nicht beschäftigt?

                              Maria Luisa Nüesch: Ja, genau und das ist eine riesige Erleichterung. Schon mit ganz kleinen Säuglingen meinen heutige Eltern etwas „machen“ zu müssen. Sie bespielen die Kinder und können es fast nicht aushalten, wenn das Baby hier in der Wiegestube zu Beginn vielleicht einfach nur daliegt. Wenn es ein Kind ist, das länger nur schaut, vielleicht sogar sehr lange nur schaut, bis es sich sicher fühlt, dann ist das für einige Eltern schon schwer zu ertragen. Es dauert, bis wirklich Vertrauen aufgebaut ist und sie sich sagen können: "Mein Kind ist wie es ist, es macht das eben so und das ist gut!" In jedem Kind  ist eine weise Entwicklungskraft angelegt, die in Phasen hervorkommt und vollkommen trägt. Es gibt Familien - gerade wenn die Eltern auch Pädagogen sind -, bei denen die Erziehung ohnehin schon in diese Richtung geht. Sie warten mit Respekt, was vom Kind kommt und vermeiden jedes Ziehen oder Stossen an seinen Fähigkeiten. Bei anderen braucht es einen längeren Prozess, bis das gefragte Vertrauen wächst, vor allem, wenn sie glauben, sie müssten ihr Kind mit allen Mitteln fördern oder es unterhalten, was die Spielzeugindustrie ihnen trickreich einzubleuen versucht. Wir machen die Erfahrung, dass Kinder, die angeleitet werden, es bald aufgeben, von sich aus frei zu spielen. Sie warten dann auf Unterhaltung. 

                              swissmom: Was ist sonst noch anders in der Wiegestube?

                              Maria Luisa Nüesch: Andere Kurse umfassen oft nur acht Einheiten und dann ist fertig. Hier sind die Kinder vom Säuglingsalter an zusammen in einer Gruppe, wir haben so eine wirklich lange Zeit der Begleitung. Wir kennen Kinder und Eltern immer besser und die Vertrautheit innerhalb der Gruppe ist stetig gewachsen. Viele gehen danach auch weiter in eine unserer Spielgruppen, wo es in der gleichen Art weitergeht. Wir sind in unserer Arbeit beeinflusst von der Waldorf-Pädagogik. Die Mitarbeiterinnen sind zwar keine Waldorf-Pädagoginnen, aber meine Arbeit seit der Gründung vor zehn Jahren hat die Entwicklung der Spielräume stark geprägt und die Mitarbeiterinnen haben viel aufgenommen über das Tun. Das ist eingeflossen in die Spielzeugwahl, in die Wahl der Musikinstrumente, in grundlegende Dinge der Umgebungsgestaltung. Das alles verbindet sich mit der Pikler-Pädagogik, die leider noch nicht sehr bekannt ist in der Schweiz. 

                              swissmom: Welches sind die Eckpunkte der Pikler-Pädagogik?

                              Maria Luisa Nüesch: Emmi Pikler hat die Bewegungsentwicklung wissenschaftlich genau beobachtet. Das haben andere auch gemacht, sie hat aber beobachtet, dass das Kind alle Schritte der Entwicklung selber macht und dazu keine Hilfestellung braucht. Ein Beispiel ist, dass man das Kind nicht aufsetzen soll, bevor es sich selber aufrichten kann. Heute hält man ein Baby oft viel zu früh aufrecht, was im Gehirn Unsicherheit bewirkt. Die Pikler-Pädagogik steht dafür, dass man mit dem Kind nicht "machen" muss, nicht üben und nicht turnen, sondern dass man einfach Freude daran haben kann, wie es sich selber entwickelt. Hier wirkt durchgehend der Grundgedanke des selber Könnens. Sich selber Bewegen bedeutet beim Kind auch, selber zu spielen. Das ist eng gekoppelt.

                              swissmom: Können Sie das noch etwas genauer erläutern?

                              Maria Luisa Nüesch: Von Anfang an ist das Spiel eigentlich Bewegung. Die Kinder mit einer freien Bewegungsentwicklung sind sehr selbständig in der Bewegung. Sie können Hände und Füsse äusserst geschickt einsetzen, sie lernen in einem wunderbaren Prozess, sich aufzurichten und auch weich zu fallen. Diese Selbständigkeit und die Freude an der Bewegung führen zu ausgiebigem, ja unerschöpflichem Spielverhalten. Wir haben einen Raum, der so eingerichtet ist, dass nichts extrem gefährlich ist, dass aber immer eine gewisse Herausforderung bleibt. Weshalb sind die Kinder bei uns fähig, so ausgiebig zu spielen? Eine Voraussetzung dazu ist, dass die Kinder seelisch gesättigt sind und das geht nicht über das Betüddeln, sondern über die Pflege. Das sind viele Momente am Tag, in denen man sich Zeit nimmt und versucht, voll präsent zu sein. Die Kinder sind dann seelisch satt und zufrieden, so dass die Eltern nicht den ganzen Tag ein Unterhaltungsprogramm abspielen müssen und sich auch wieder anderen Dingen widmen können, zum Beispiel dem Haushalt. Das sind Dinge, die zum Teil verloren gegangen sind. 

                              swissmom: Wie läuft es ab, wenn Eltern mit ihrem Säugling in die Wiegestube kommen möchten? 

                              Maria Luisa Nüesch: Es gibt zuerst einen Einführungsabend, damit die Eltern wissen, dass es kein Programm gibt, das man hier abspielt. Dann einigt sich die Gruppe auf einen Tag für das erste Treffen. Für die ganz kleinen Kinder ist zu Beginn eine grosse Decke auf dem Teppich vorbereitet, mit einigen „Sachen zum Spielen“ darauf verteilt. Das können z.B. auch kleine Schüsseln und Körbe sein, Tüchlein – oft Dinge aus dem Haushalt. Die Eltern kündigen ihren Babys an, dass sie sie nun auf den Rücken legen werden. Das Ankündigen von Handlungen mit dem Baby ist einer der Eckpfeiler der Pikler-Pädagogik und zeugt von Respekt. Dies vermittelt den Kindern Sicherheit. Sie werden nicht „überfallen“. Am Anfang bleiben die Eltern noch in der Nähe, mit der Zeit setzen sie sich mehr an den Rand. In der Anfangszeit braucht es häufiger Gesprächsabende, alles ist neu und es gibt viel zu besprechen. Wir versuchen, am Abend das aufzugreifen, was am Morgen zu beobachten war, auch Probleme, die gerade im Moment vorliegen. Wir schauen natürlich, dass verschiedenste Bereiche im Laufe der Zeit angesprochen werden. Das Thema Bewegungsentwicklung kommt z.B. immer wieder, denn da gibt es ja immer wieder neue Stadien. Neben der Wiegestuben-Arbeit haben wir auch schon Kursreihen über besonders gefragte Themen angeboten, wie über das Aufräumen und Entrümpeln. Das hat bei den Teilnehmerinnen ganz viel in Bewegung gebracht. Oder eine Kursreihe über das freie Spiel. Gerne möchten wir auch mehr in der Geburtsvorbereitung machen. Kurse, in denen es vor allem darum geht, in der Schwangerschaft eine innere Beziehung zum Baby aufzubauen. Viele Eltern sind nur noch orientiert an dem schwarz-weissen Ultraschallbildchen und nicht an einer inneren Beziehung zum Ungeborenen, die so unglaublich hilfreich wäre. 

                              swissmom: In Ihrem Buch "Begleitungskunst in Eltern-Kind-Gruppen" schreiben Sie, dass mit der Zeit, wenn die Kinder grösser sind, das Arbeiten hinzukommt. Was hat es damit auf sich? 

                              Maria Luisa Nüesch: Die Kinder spielen ja immer selbständiger. Am Anfang gehen sie noch oft Auftanken bei der Mutter und brauchen viel Blickkontakt. Mit der Zeit sind sie immer mehr alleine unterwegs und es kommt dann die Phase beim Kind, wo es stark in die Nachahmung kommt, wo es den ganzen Tag "schaffen" spielt. Es will auch wischen, will auch putzen, will auch tun. Es ist eigentlich seltsam, dass gerade in dieser Zeit lauter Erwachsene da sind, die nichts tun. Warum nicht eine ganz einfache Arbeit machen? Wir achten darauf, dass es Arbeiten sind, die eine Ausstrahlung haben, zum Beispiel Wolle zupfen. Die Atmosphäre, die dabei entsteht, kann sehr spielfördernd wirken. Es ist nicht bei jeder Gruppe die gleiche Arbeit, jede Leiterin entwickelt etwas in einem Bereich, in dem sie eine besondere Begabung hat. Die einen gehen viel mehr nach draussen, die anderen gehen sehr viel in den Sandraum (siehe Kasten!). Es ist nichts Starres, es wird sehr viel abgelesen an der Gruppe und das heisst auch, dass die Anforderungen an die Leiterin sehr hoch sind. Viele unserer ausgebildeten Leiterinnen sind Mütter von ehemaligen Wiegestuben-Kindern, die sozusagen bereits durch unsere Schule gegangen sind. 

                              swissmom: Sie haben vorhin die Wahl der Spielsachen angesprochen. Was ist hier in diesem Punkt speziell? 

                              Maria Luisa Nüesch: Wir haben Spielsachen und Möbel, die langlebig sind, die sich vielfältig verwenden und auch reparieren lassen, meist aus Naturmaterial. Vieles davon findet man nicht im Spielzeugladen, sondern ganz einfach im Haushalt. Viele Eltern sagen, es sei hier so schön, sogar dann, wenn eigentlich Unordnung herrscht. Dann stellt sich die Frage, was man zu Hause anders machen könnte. Kann man die Flut der Spielsachen dezimieren? Vieles kommt ja ungefragt ins Haus, das ist einfach unsere Zeit. Zu diesem Thema machen wir immer auch Gesprächsabende. Wie kann man vorbeugend sein? Wie kann man über den Wunschzettel steuern, dass die Spielzeugflut nicht ein Ausmass annimmt, das zuletzt das Spiel verhindert? Die Eltern sehen, wie die Kinder in der Wiegestube spielen und das berührt sie sehr. Auch dass Kinder, die bereits "verdorben" sind, langsam hereinkommen in ein echtes, freies, selbst erfundenes Spielen.

                              swissmom: Wo liegt denn der Unterschied zwischen einem echten Spiel und einem "verdorbenen" Spiel? 

                              Maria Luisa Nüesch: Es gibt Kinder, die tun so, als würden sie spielen, aber sie kommen nicht vertieft rein, sie können sich nicht ganz verbinden. Wenn das Spiel gut ist, gibt es eine Art Bogen, es fängt an und ist irgendwann auch fertig, abgerundet. Kinder, die von Anfang an immer wieder abgelenkt und unterbrochen werden – heute immer mehr auch durch digitale Medien-, werden immer wieder aus dem Spiel herausgerissen. Sie machen nichts mehr fertig, kommen nicht in ein vertieftes Spiel und werfen oft die Sachen nur herum. Wir haben auch hier ab und zu solche Kinder. Wir versuchen herauszufinden, was das Kind uns mit seinem Verhalten zu sagen hat und versuchen, "Hilfestellungen" zu geben. 

                              swissmom: Das Alltagsleben der Eltern ist oft ganz anders, als der Ablauf in der Wiegestube. Wie schafft man es, zumindest einen Teil von dem hier Erlebten zu Hause umzusetzen? 

                              Maria Luisa Nüesch: Manchen Eltern gelingt das, andere haben einige Mühe damit und sagen, ihr Kind würde nur in der Wiegestube so schön und ausdauernd spielen. Wir versuchen, gemeinsam herauszufinden, was zu Hause zu mehr Ruhe und Sicherheit führen könnte. Wir geben den Eltern einen goldenen Faden in die Hand, dem sie nachgehen können, um Glücksmomente besser wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass diese sich vermehren. Es gibt zu Hause einfach mehr Störungen. Kinder, welche Grosseltern haben, die ihnen einen Ort der Ruhe und Ungestörtheit anbieten, sind Glückspilze. Wir machten schon Grosseltern-Abende, um diese zu animieren, einfach nur da zu sein, ohne grosses Programm. Kinder hungern nach mit Freude arbeitenden Vorbildern, die backen, Wäsche aufhängen und Blumen giessen. 

                              swissmom: Sind die Grosseltern empfänglich dafür?

                              Maria Luisa Nüesch: Ja, sie sind sehr empfänglich. Sie haben es als Kinder noch so erlebt und es tut ihnen gut, dass ihnen jemand sagt: "Das war gut, wir brauchen das heute ganz dringend!“ Kleine Kinder brauchen nämlich Menschen, die durchschaubare Arbeiten machen, die sie auf ihre Weise nachahmen können. Grosseltern sind ganz erlöst, wenn sie erfahren, dass das die beste Förderung ist. Das zu wissen, ist auch für die Väter wesentlich. Väter können unglaublich belehrend sein. Ein Vater, der ein Loch im Garten gräbt, ist etwas vom Interessantesten, was es gibt! Er wird vorbehaltlos bewundert. Wir sind froh, wenn die Väter in die Wiegestuben kommen und so ihr Vertrauen in die Selbstentwicklungskraft ihrer Kinder aufbauen. Sie sind jeweils sehr berührt. Viele Väter kommen mit ihren Kindern in den Sandraum, dort erleben sie ebenfalls, dass es keinerlei Animation und Belehrung braucht und die Kinder eine unerschöpfliche spielerische Erfindungsgabe besitzen. 

                              swissmom: Es gibt zahlreiche Angebote für Eltern von Babys und Kleinkindern, wer möchte, könnte sich für die ganze Woche ein volles Programm zusammenstellen. Ist die Wiegestube eine Art Gegenstück dazu?

                              Maria Luisa Nüesch: Zu Beginn müssen wir daran jeweils arbeiten. Wir haben manchmal Mütter, die wollen noch ins Babyschwimmen, in Zeichensprachkurse etc. Wir weisen sie dann darauf hin, dass die Wiegestube sehr konzentriert ist und man sehr viel aufnimmt. Und viele Mütter sagen dann auch, der Besuch der Wiegestube reiche für eine ganze Woche, hier könnten sie auftanken. Wenn die Mütter den Unterschied selber spüren, ist es besser. Wir wollen ja nicht belehrend sein. Darum machen wir auch viele Übungen, bei denen sie selber erleben, wie sich gewisse Dinge anfühlen.

                              swissmom: Um welche Art von Übungen handelt es sich da?

                              Maria Luisa Nüesch: An Begleitabenden machen wir es zum Beispiel so, dass man mit drei Personen aus dem Raum geht und ihnen die Übungsanleitung gibt. Sie sollen ins Zimmer kommen und sich über alles Mögliche miteinander unterhalten und währenddessen den Personen im Raum eine Socke anziehen und zwar ziemlich rassig. Dann warten wir und spüren ein wenig nach: Wie war das? Wie fühlt sich der Fuss jetzt an? Danach tun sie das gleiche zugewandt, nehmen Blickkontakt auf, ziehen die Socke ihrem Gegenüber liebevoll an und halten den Fuss noch ein wenig. Wie hat sich das angefühlt? Dann können wir hören: "Das eine Bein ist kalt und fühlt sich an, als würde es nicht zu mir gehören und das andere ist warm." Es fällt manchen wie Schuppen von den Augen: die einfachste Berührung kann das Kind nähren und wärmen oder genau das Gegenteil verursachen! 

                              swissmom: Etwas zugewandt zu tun, ist heute oft schwierig, da wir immer wieder abgelenkt werden, zum Beispiel durch das Smartphone. Ganz lässt sich das ja nicht aus unserem Leben ausschliessen. Welche Anregungen geben Sie den Eltern diesbezüglich? 

                              Maria Luisa Nüesch: Hier ist die Pflege das Zentrale. Wenn wir es fertigbringen, wenigstens während allen Pflegehandlungen - also Essen geben, Anziehen, Wickeln, Baden  - ganz da zu sein und alles auszuschalten, dann ist schon sehr viel erreicht. Wichtig ist, dass die Mütter verstehen, dass die Pflegehandlungen etwas vom Schönsten sind am Tag und nicht etwas, was man schnell absolvieren muss. 

                              swissmom: Dann kann die Mutter sich also auch ihren Dingen wieder widmen, wenn sie dem Kind bei der Pflege Aufmerksamkeit geschenkt hat? 

                              Maria Luisa Nüesch: Ja, es ist ganz stark eine Schulung der Präsenz. Die Mütter lernen bei uns über das Anziehen, ganz beim Kind zu sein. Aber können sie auch ganz bei sich sein, wenn sie z.B. bügeln? Sie können das bei jeder einfachen Arbeit üben: Wie kann ich präsent sein, wenn ich das Besteck einordne? Einfach ganz dabei sein - und dann werden diese Arbeiten unversehens schön. Das gibt auch eine andere Wertung des Haushalts, der ja einfach gemacht werden muss. Aber wie? Wenn wir den Dreh finden, werden die Arbeiten im Haushalt leichter, angenenehmer und wir ernähren zudem das grundlegende unglaubliche  Bedürfnis der Kinder nach dem Erleben von sinnvollen Arbeiten. Sie sind in dieser Hinsicht heute beinahe am Verhungern, weil sie das nirgendwo mehr finden. Wir brauchen eine ganz neue Wertung von Arbeit.

                              swissmom: Haben wir also oft eine falsche Haltung gegenüber Pflegehandlungen und Routinearbeiten? 

                              Maria Luisa Nüesch: Ja. Wir müssen den Müttern einen Rahmen bieten, in dem sie erfahren, wie schön Pflege und Arbeit rund um das Kind sein kann. Das müssen sie  selber erleben dürfen. Ich glaube, das ist die Zukunftsaufgabe: Orte der Ruhe und der Ungestörtheit schaffen, Orte des Respekts, der Einfühlung und der Entfaltung für Eltern und ihre Babys. Es geht darum, ein Gefühl zu erwecken: "Ich tue mir etwas Gutes und ich tue meinem Kind etwas Gutes". Viele Eltern haben hier ein riesiges ungestilltes Bedürfnis. Es gibt daneben auch Eltern - und zwar immer mehr -, bei denen ein Suchtverhalten vorliegt, vor allem im Bereich der digitalen Medien. Das ist sehr schwer anzugehen, denn ihnen fehlt ja selber etwas, nur ist meist das Bewusstsein davon nicht vorhanden. Da müssen wir zuerst die Mütter nähren. Es geht da wirklich um seelische Nahrung, zum Beispiel, wenn wir ein Handgestenspiel machen oder nach dem Znüni die Händchen der Kinder mit Öl massieren und dazu ein Sprüchlein sagen. Um solche Handlungen einzuführen, üben wir sie am Abend zuerst mit den Müttern und das ist für sie wie ein Geschenk. Sie erleben Liebe und Herzenswärme. Wenn nämlich da (deutet auf das Herz) nichts ist, dann können sie natürlich dem Kind auch nichts weitergeben. Darum sind die Wiegestuben Elternschulen. Hier sollen sich nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern angenommen und unterstützt fühlen, sich entfalten dürfen. Wenn einzelne Mütter starke Wunden erlitten haben, dann kommt natürlich viel Schmerz hoch. Mit dem Kind kommt die eigene Kindheit unvermittelt wieder ans Licht. Manchen kommt zum Bewusstsein, was sie verpasst haben, was sie selber nicht bekommen haben. Hier braucht es dann eventuell auch die Zusammenarbeit mit Fachleuten, zu denen wir den Kontakt vermitteln, zum Beispiel für eine Geburtsverarbeitung.

                              swissmom: Die meisten Mütter haben kein solches Angebot in der Nähe. Kann man eine Wiegestube auch selber aufbauen? 

                              Maria Luisa Nüesch: Es braucht den Mut und die Begeisterung zu einem Anfang. Ich habe bei mir im Dachgeschoss gestartet, dort konnten wir genügend Raum freimachen. Meine Kolleginnen haben ganz zu Beginn jedes Mal ihre Wohnstube ausgeräumt. Wenn man einen Raum findet, wo das möglich ist, kann man im Kleinen anfangen. Die Pikler-Pädagogik ist als Rückhalt unabdingbar, wenn man die freie Bewegungsentwicklung ermöglichen will. Da gibt es ja ganz gute Bücher, über die man schon sehr viel lernen kann. Die Arbeit, wie wir sie vertreten, bedingt dann aber eine intensive Beschäftigung mit der Thematik, Ausbildung und dauernde Weiterbildung. 

                              swissmom: Gibt es etwas, was Ihnen ganz besonders am Herzen liegt? 

                              Maria Luisa Nüesch: Mir ist die Verlangsamung ganz wichtig. Sie hilft uns, besser mit uns selbst in Verbindung zu kommen. Das ist die Voraussetzung dazu, um auch ganz beim  Kind sein zu können. Den Alltag zu beruhigen und zu rhythmisieren gibt den Kindern mehr Spielraum und Sicherheit. Es verschafft ihnen eine Art Ruhe-Wiese, auf der sie einfach sein können und wo sie es wagen dürfen, sich zu zeigen, wie sie sind mit all ihren Schätzen. Die Kinder als unsere Lehrer und Führer zu einer lebenswerten Welt wahrzunehmen, ist mein tiefstes Anliegen.

                              Die Sandbank

                              Der Verein Spielraum-Lebensraum hat in seinen Räumlichkeiten in Grabs SG eine Sandbank eingerichtet. Dort können Kinder im Winterhalbjahr jeweils am Samstag nach Herzenslust mit Quarzsand spielen, bauen und kreativ sein. Der Raum kann auch von Spielgruppen und Kindergärten sowie für Geburtstagspartys gemietet werden. Als Vorbild für die Sandbank diente das "Strandgut" von Ute Strub in Berlin. 

                              Letzte Aktualisierung: 25.11.2019, TV