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                              «Man darf immer Hoffnung haben»

                              Interview mit KD Dr. Med. Philipp Meyer

                              Frühgeborenes im Inkubator
                              ©
                              GettyImages

                              Kommt ein Kind früher als erwartet zur Welt, ist vieles ungewiss: Wie können die Eltern dem Neugeborenen die Nähe geben, die es braucht? Wie wird sich das Kind entwickeln? Was kommt in den nächsten Wochen auf die Familie zu – und was erwartet sie in Zukunft? KD Dr. med. Philipp Meyer, Chefarzt Neonatologie am Kantonsspital Aarau, gibt Antworten auf Fragen, die Mütter und Väter von frühgeborenen Kindern beschäftigen.

                              swissmom: «Frühgeboren» - ein Begriff, der eine grosse Spannweite umfasst. Wie wird er definiert und welche Abstufungen gibt es?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Jedes Kind, das vor der 37 0/7 Schwangerschaftswochen geboren wird, gilt als frühgeboren, jedes Kind, das länger im Bauch war, gilt als termingeboren. Diese Grenze wurde von der WHO festgelegt. Wir unterscheiden zwischen sogenannt Spätfrühgeborenen (Schwangerschaftswoche 34 0/7 bis 36 6/7) und Frühgeborenen (Schwangerschaftswoche 32 0/7 bis 33 6/7). Kinder, die vor 32 0/7 Schwangerschaftswochen zur Welt kommen, gelten als sehr frühgeboren und dann gibt es noch die extrem Frühgeborenen, die vor 28 0/7 Schwangerschaftswochen geboren werden. Je frühgeborener ein Kind ist, desto mehr Probleme können auftreten. Wir haben auch eine biologische Variabilität, das heisst, nicht jedes Kind ist gleich. Da können beispielsweise zwei Kinder sein, die beide in der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen sind, die in ihrer Entwicklung ganz unterschiedlich sind. Zudem ist die Angabe, wie alt das Kind in der Schwangerschaft ist, immer nur ungefähr. Wir wissen, wann der erste Tag der letzten Menstruation war und aufgrund der Ultraschalluntersuchungen um die 12. Schwangerschaftswoche können wir anhand der Grösse des Fötus bestimmen, wie alt er ist. Dies können wir aber nur mit einer Sicherheit von ungefähr plus / minus vier Tagen bestimmen – es besteht also eine Unsicherheit von 8 Tagen. Das führt dazu, dass Kinder, die rechnerisch gleich alt sind, nicht effektiv gleich sind.

                              Zur Person

                              Meyer philipp mitarbeiter ksa

                              KD Dr. med. Philipp Meyer ist Chefarzt Neonatologie am Kantonsspital Aarau. 

                              swissmom: Wie stehen die Chancen für ein Kind, das extrem früh geboren wird?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Bei uns in Europa ist die Überlebenschance nach der 28. Schwangerschaftswoche sehr gut. Natürlich sind die Risiken immer noch grösser als bei einem termingeborenen Kind und Komplikationen sind möglich. Aber auch ein termingeborenes Kind kann unerwartet schnell Probleme bekommen. Vor der 28. Schwangerschaftswoche ist es sehr stark davon abhängig, wie jung das Kind geboren wird. Auch das Gewicht spielt eine erhebliche Rolle. Kinder mit einer guten Gewichtsentwicklung haben sicher eine bessere Chance als solche, die zu klein für ihr Alter geboren worden sind. Ein weiterer Faktor ist, ob eine Induktion der Lungenreifung stattgefunden hat, also, ob die Mutter Medikamente erhalten hat, um die Reifung der Lunge in Gang zu bringen - ein Prozess, der bei einem Kind, das bis zum Termin im Bauch bleibt, selbständig in Gang kommt. Ein weiterer Faktor ist, ob es sich um Mehrlinge handelt.

                              swissmom: Was ist bei einem frühgeborenen Kind anders als bei einem termingeborenen Kind?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Im Prinzip ist beim Kind alles dran und drin, – aber die Funktion ist noch nicht so, wie sie bei einem Termingeborenen oder bei uns Erwachsenen ist. Die Organe müssen erst in ihre Funktion hineinkommen und ein wichtiges Organ, das man nicht vergessen darf, ist z. B. der Darm. Der muss nach der Geburt anfangen, eine Funktion zu übernehmen, die – wie bei den anderen Organen auch – zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch gar nicht geplant ist und das kann ab und zu Probleme machen. Selten einmal gibt es Kinder, die man operieren muss, bei denen man beispielsweise für einige Zeit einen künstlichen Darmausgang machen muss. Diese Kinder können dann später Darmprobleme haben, aber das kommt relativ selten vor. Bei extrem Frühgeborenen ist auch die Haut noch unreif, weshalb in den ersten zwei Wochen eine gute Hautpflege wichtig ist. Die Haut ist extrem dünn, die oberste Hautschicht, die sogenannte Hornschicht, die dafür sorgt, dass wir nicht austrocknen, ist noch nicht entwickelt. In der Isolette ist daher bei ganz kleinen Frühgeborenen die Luftfeuchtigkeit sehr hoch, damit die Haut und damit das Kind nicht austrocknet. Dementsprechend muss dem Kind auch viel Flüssigkeit zugeführt werden, meistens über eine Infusion.

                              swissmom: Wie zentral ist für die Eltern die Frage nach dem «Warum?», wenn ein Kind früher als erwartet zur Welt kommt.

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Diese Frage wird von den Eltern nur selten konkret gestellt, aber sie ist immer da. Und ich finde diese Frage sehr wichtig. Im Elterngespräch spreche ich dies daher immer aktiv an. Die wichtigste Message ist: "Sie haben nichts falsch gemacht." Das ist die Natur und die steht nach wie vor über uns, das können wir nicht beeinflussen. Wenn es beispielsweise eine Infektion gab, dann wissen wir, das war der Grund, aber in den meisten Fällen werden wir die Frage nicht beantworten können. Mir liegt viel daran, den Eltern im Gespräch die Last zu nehmen des Gefühls, sie hätten etwas falsch gemacht. Gerade die Mütter stellen sich oft die Frage, ob mit ihnen etwas nicht stimme, aber so ist es nicht. Wir wissen, dass ein Drittel aller Schwangerschaften wieder aufhört, meistens ganz am Anfang, bevor man es gemerkt hat. Einige Schwangerschaften hören halt einfach später auf. Das ist zwar schwierig zu akzeptieren - aber wichtig.

                              swissmom: Eine weitere grosse Frage, die sich stellt, wenn ein Kind zu früh geboren wird: Was bleibt zurück? Wie wird sich das Kind entwickeln?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Je früher das Kind geboren wird, desto grösser ist das Risiko, dass etwas zurückbleibt. Allgemein bekannt ist: Eine Frühgeburt birgt ein Risiko für Behinderung. Doch was ist eine Behinderung? Das Spektrum ist sehr offen. Ist von Behinderung die Rede, denkt man meist an eine schwere Beeinträchtigung, beispielsweise an spastische Zerebralparese, Rollstuhl, lebenslange Abhängigkeit. Aber das kommt glücklicherweise gar nicht so viel vor. Was häufig vorkommt, sind Teilleistungsstörungen und Mühe in der Schule. Wir wissen zudem, dass ADHS und Aufmerksamkeitsdefizite etwas vermehrter auftreten. Dies sind jedoch meines Erachtens Dinge, die nicht lebensbeeinträchtigend sind. Sie sind zwar manchmal herausfordernd für die Familie, aber man kann das Kind gut unterstützen. Bei sehr früh geborenen Kindern gibt es noch weitere Risiken, die erhöht sind. Sie brauchen beispielsweise später öfter eine Brille. Weil die Augenentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, besteht bei ganz kleinen Frühgeborenen auch das Risiko, dass sie schlimmstenfalls erblinden. Weil wir sehr gute Kontrolluntersuchungen haben, ist dies in der Schweiz aber äusserst selten geworden. Frühgeborene haben ausserdem häufiger Hirnblutungen, weil das Gefässsystem im Gehirn vereinfacht gesagt noch unreif und sehr fragil ist. Aber auch Hirnblutung ist nicht gleich Hirnblutung. Es gibt solche, die ohne Konsequenzen bleiben, und dann gibt es solche, die können schwere Konsequenzen haben. Wenn wir keine Hirnblutung haben, sind wir sehr glücklich. Was wir aber in den Ultraschalluntersuchungen, die wir machen, nicht darstellen können, ist die Funktion des Gehirns, das sehen wir erst Jahre später.

                              swissmom: Dann lässt sich vieles also noch gar nicht voraussagen in den ersten Wochen und Monaten?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Wir haben immer nur Puzzlesteine. Wir wissen, in welcher Schwangerschaftswoche das Kind geboren wurde, das ist der erste Puzzlestein, der das Bild eines gewissen Risikos gibt. Im weiteren Verlauf, während das Kind bei uns ist, kommen weitere Puzzlesteine hinzu und dann können wir anfangen, das Spektrum von «keine Behinderung» über «Brillenträger» bis hin zu «schwere Behinderung» in eine Richtung einzuengen. Wir haben keine Kristallkugel, die uns erlaubt, genau zu wissen, wie die Entwicklung sein wird. Vieles sehen wir erst im Alter von drei, vier, fünf Jahren, manches sogar erst in der Schulzeit. Wichtig ist aber auch: Man darf immer Hoffnung haben, man soll immer Hoffnung haben.

                              swissmom: Wie können Eltern den Kontakt zu ihrem Kind pflegen und die Bindung zu ihm aufbauen, wenn es die ersten Lebenswochen auf der Neonatologie verbringen muss?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Den Eltern-Kind-Kontakt zu ermöglichen, ist zentral. Bei uns und in den meisten anderen Neonatologien ist es so, dass die Eltern ihr Kind jederzeit besuchen können. Das Bonding, der Hautkontakt, ist meist nicht sofort möglich. Aber sobald die Mutter auf die Station kommen kann, probieren wir zu ermöglichen, dass sie das Kind zumindest berühren kann. Dass es ihre Stimme hört und sie ihm so Ruhe vermitteln kann, ist für Mutter und Kind ganz wichtig – und übrigens auch für den Vater. Sobald es medizinisch einigermassen vertretbar ist, folgt das Känguruhen. Das Kind kommt dabei mit warmen Tüchern zur Mutter oder zum Vater auf die Brust, sodass beide eine Stunde, oder so lange es halt geht, die Nähe spüren. Wir probieren dies so früh wie möglich, auch bei Kindern, die beatmet werden. Die meisten Kinder machen es auf der Brust mindestens so gut wie im Inkubator.

                              swissmom: Wie sieht es mit der Ernährung von Frühgeborenen aus?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Die ganz kleinen Frühgeborenen kann man in der Regel am Anfang noch nicht stillen. Trotzdem ist es wichtig, dass sie, wenn möglich, Muttermilch bekommen. Die Mütter pumpen ab und wir geben dem Kind wirklich jeden Tropfen, der gewonnen werden kann. Das ist wichtig, denn die sogenannt guten Bakterien und andere Stoffe in der Muttermilch braucht es, um den Darm aufzubauen. Der Darm kommt fast ganz steril auf die Welt und muss mit guten Keimen besiedelt werden und das geht am besten mit der Muttermilch. Bei extrem Frühgeborenen ist dies so wichtig, dass wir in Absprache mit den Eltern Spendermilch von anderen Müttern geben, wenn die Mutter noch keine eigene Milch hat. Die Spendermilch wird sicherheitshalber pasteurisiert, ihr fehlen daher bestimmte Faktoren der eigenen Muttermilch. Die nächstbeste Option ist spezielle Pulvermilch für Frühgeborene und erst dann kommt die gewöhnliche Pulvermilch, die man im Detailhandel kaufen kann.

                              swissmom: Ab wann ist Stillen möglich?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Zu Beginn werden die Kinder häufig mit einer Magensonde ernährt. Ab ca. 33 oder 34 Wochen postmenstruelles Alter können Kinder allmählich anfangen, das Trinken zu lernen. Trinken ist etwas sehr Komplexes, das merken wir Erwachsenen, wenn wir uns verschlucken. Das Schlucken bedingt, dass man in dem Moment nicht atmen kann. Das geht bei uns Erwachsenen gut, denn wir atmen etwa zehn- bis zwölfmal pro Minute. Ein kleines Frühgeborenes atmet fünfzigmal pro Minute, wenn die Lungen noch nicht soweit sind, sogar achtzig- bis neunzigmal. Dazwischen noch zu schlucken, wäre ziemlich anspruchsvoll. Auch die Koordination ist noch nicht da, die Kinder würden sich verschlucken und das wäre gefährlich. Wenn sie aber in das Alter kommen, wo man sie ohne Sonde ernähren kann, ist das Ansetzen an die Brust ganz wichtig. Dass das Kind nach Möglichkeit zu stillen lernt, hat erste Priorität. Zweite Priorität ist das Trinken vom Schoppen, das geht meistens ein bisschen einfacher. Das Stillen ist sehr wichtig, irgendwann ist es aber genauso wichtig, dass das Kind mit den Eltern nach Hause kann. Wenn es mit dem Schoppen bereits klappt, gewichten wir das in dem Moment höher, denn unser Ziel ist ja, das Kind nach Hause in die Familie zu entlassen.

                              swissmom: Wie lange bleiben Frühgeborene auf der Neonatologie?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Ich sage immer: So lange, wie das Kind eigentlich im Bauch hätte bleiben sollen. In der Regel gehen die Kinder aber eher früher nach Hause, als der eigentliche Geburtstermin gewesen wäre. Doch je früher geboren, desto länger muss das Kind bei uns bleiben. Ein 25-wöchiges Kind bleibt häufig bis zum ursprünglichen Geburtstermin oder sogar darüber hinaus bei uns. Ein Kind, das in der 32. oder 33. Schwangerschaftswoche geboren wird, geht ziemlich sicher zwei bis drei Wochen vor dem eigentlichen Geburtstermin nach Hause. Heute ist es auch nicht mehr so, dass das Kind ein bestimmtes Gewicht erreichen muss, damit es entlassen werden kann. Bei uns in Aarau und auch an den meisten anderen Orten muss das Kind gewisse Austrittskriterien erfüllen: Die Atmung muss gut sein, der Kreislauf muss gut sein, es muss die Wärme halten können. Das Kind muss von den Eltern auch selbständig ernährt werden können, sei es mit dem Schoppen oder durch Stillen. Bei den meisten Kindern sind diese Kriterien zwischen der 35. und 42. postmenstruellen Woche erfüllt. Wir hatten aber auch schon ein Kind, das beim Austritt erst in der 33. Woche und ca. 1,5 Kilogramm schwer war, aber es ging alles gut. Es gibt also keine fixe Grenze, wann ein Kind nach Hause kann.

                              swissmom: Die Wochen, während derer ein Kind auf der Neonatologie ist, sind für eine Familie sehr herausfordernd. Welche Unterstützung können Sie den betroffenen Eltern bieten?

                              KD Dr. med. Philipp Meyer: Die Eltern werden ja nicht geplant so früh Eltern. Direkt körperlich betrifft das vor allem die Mutter. Ihr fehlen einige Wochen der Schwangerschaft und das ist für viele Frauen nicht so einfach zu akzeptieren. Das reicht von "Wir hatten noch gar keine Zeit, einen Namen zu finden" bis zu "Habe ich versagt?". Zu schauen, wie es den Eltern geht, gehört auch in den Bereich der Neonatologie. Natürlich sind wir primär für das Kind da, aber dem Kind kann es nur gut gehen, wenn es auch den Eltern gut geht. Bei uns besteht ein geschützter Rahmen, es ist nicht nur okay, dass die Eltern über sich selber reden – es ist auch wichtig. Sie dürfen auch mal sagen "Heute habe ich einen schlechten Tag". Solche Schwankungen sind normal und wir können versuchen, das ein wenig aufzufangen. Wir können beispielsweise Unterstützung durch Psychologen anbieten; für andere Eltern ist die Seelsorge eine wichtige Anlaufstelle. Hat eine Familie Zwillinge oder Drillinge bekommen, gibt es noch weitere Fragen, zum Beispiel: Wie handhabt man das Management von mehreren Kindern? Manchmal kommen auch finanzielle Sorgen hinzu. Da können wir Hand bieten, indem wir die Eltern mit dem Sozialdienst vernetzen und sie auf Unterstützungsangebote von Firmen für Mehrlinge hinweisen. Wie es den Eltern geht, ist ein sehr wichtiger Aspekt, denn nur so funktioniert das Gesamtpaket Familie.

                              Letzte Aktualisierung: 07.06.2021, Content Creation